Zwar verbindet man das Wohlstandsevangelium in der Regel eher mit der charismatischen Bewegung. Trotzdem kann man sagen, dass praktisch die gesamte westliche Christenheit dadurch beeinflusst wird.
In manchen Kreisen meint man geradezu, es gäbe ein Recht auf Reichtum. Die meisten würden wohl nicht auf die extremen Lehren und Methoden von solchen wie Benny Hinn, Kenneth Copeland, Crefo Dollar, Peter Popoff (dem Erfinder des «göttlichen Transfers») und vielen anderen hereinfallen. Schliesslich gehen einige der extremen Vertreter dieser Richtung so weit, zu behaupten: «Wenn Ihr Glaube gross ist, können Sie reich werden. Schicken Sie uns einfach Ihre Spende, und Sie werden einen ‹göttlichen Reichtums-Transfer› oder ‹hundertfache Frucht› dafür empfangen …»
In diesem Kuhhandel mit dem Allerhöchsten, für den die genannten Lehrer werben, wird einem gesagt: «Erwarten Sie, dass Gott sich bei Ihnen revanchiert, indem Er wirklich den ‹Samen› Ihrer Opfergabe vervielfältigen wird – sei es durch Geld oder irgendeinen anderen materiellen Segen. Es könnte sein, dass Sie in Ihrem Briefkasten einen Scheck in beträchtlicher Höhe von einem unbekannten Absender finden oder Ihnen irgendein anderer Glücksfall widerfährt. Wenn Sie nur richtig glauben, ist die Dividende sicher. Denn dafür bürgt ein Gott, der die unbegrenzten Möglichkeiten hat, den Gläubigen Geld und irdischen Wohlstand zukommen zu lassen.»
Wenn das wirklich wahr wäre, dann hätten wir ein vom Himmel verordnetes Schneeballsystem entdeckt (auf englisch «Ponzi-System»; d. Übers.). Was ist das? Dieses Betrugssystem wurde nach Charles Ponzi benannt, einem der bekanntesten amerikanischen Betrüger aller Zeiten. Er versprach den Leuten hohe Renditen für ihre Investitionen und diese bezahlte er dann mit dem neu hereinkommenden Geld anderer Investoren. Genauso schaffte es Bernie Madoff erstaunlicherweise, in den vergangenen Jahren über 60 Milliarden Dollar zu veruntreuen. Solange die Leute in seinen Fonds mehr investierten als er auszahlte, blieb sein Betrug unentdeckt.
Wir wollen einmal vorsichtig untersuchen, welche Mathematik den Versprechen der radikalen Lehrer des Wohlstandsevangeliums zugrunde liegt. Einer ihrer Lieblingsverse steht in Matthäus 19,29: «Wer Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlässt um meines Namens willen, der wird’s hundertfach empfangen und das ewige Leben ererben.» Das ist tatsächlich eine wunderbare Verheissung. Allerdings ist damit kein irdischer Reichtum gemeint, wie es die radikalen Vertreter des Wohlstandsevangeliums behaupten, sondern vielmehr ewiger Lohn.
Zur Veranschaulichung nehmen wir einmal an, es gäbe 100 Millionen echte Christen auf Erden, die «im Geist und in der Wahrheit» wandeln (das wären ungefähr 1,5 Prozent der Weltbevölkerung). Nehmen wir weiter an, sie würden vorsichtig geschätzt nicht das Hundertfache, sondern nur das Zehnfache empfangen. Als Nächstes nehmen wir an, diese 100 Millionen Christen kämen aus Nordamerika, wo das durchschnittliche Netto-Einkommen 166.000 Dollar beträgt. Wir stellen schnell fest, dass eine derartige Verheissung nur wenigen Auserwählten gelten kann. Schliesslich würde bei einem solchen garantierten Gewinn gewiss jedermann den Predigern des Wohlstandsevangeliums alles geben, was er hat. Wenn die Spender dann das Zehnfache ihrer Gabe zurückerhalten sollten, würde sich das auf sechzehntausend Milliarden Dollar summieren. Wie viel ist das? Über die Hälfte aller Spareinlagen in allen Banken auf der Welt! Wie also sollte das gehen? Es funktioniert nicht!
Überlegen Sie, welche Folgen es hätte, wenn diese und andere ähnliche Lehren wirklich wahr wären. Die Welt würde die grösste Inflation der Geschichte erleben.
Ein falsches Evangelium – wie subtil es auch sein mag – ist immer tödlich. Die Irrlehren, die es vermittelt, zerstören praktisch jede gesunde Lehre, Weltanschauung und Ewigkeitshoffnung. Ähnlich verderblich wirkt das Wohlstandsevangelium auf viele Lehren und Ansichten.
Jedes falsche Evangelium kann man sicher daran erkennen, wie seine Haltung zum Geld aussieht. Die Briefe des Neuen Testaments bringen jede Irrlehre, die sie erwähnen (und davon gibt es viele), in Zusammenhang mit Habgier oder einer übermässigen Liebe zu Geld und Reichtum. Das ist heute ebenso offensichtlich wie damals. Wenn heute überhaupt etwas anders ist, dann, dass manche dieser Irrlehren sehr viel systematisierter und ausgebuffter sind als zur Zeit des Neuen Testaments.
Wie wir bereits zeigten, scheitert das Wohlstandsevangelium schon an einer Prüfung durch den gesunden Menschenverstand. Man sollte doch meinen: Wenn die Verheissungen des Wohlstandsevangeliums nachweislich stimmten, sollten dessen Anhänger in der Tat reicher als der Bevölkerungsdurchschnitt sein. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Nach den Umfragen des Pew Forum on Religion & Public Life liegt das durchschnittliche Einkommensniveau aller Christen in Amerika unter dem der Anhänger anderer Religionen. Zum Beispiel erzielen 15 Prozent der Protestanten ein jährliches Einkommen von über 100.000 US-Dollar. Das ist ein geringerer Anteil als bei den Moslems (16 Prozent), Juden (46 Prozent), Buddhisten (43 Prozent) und Hindus (43 Prozent).
Wenn wir die christlichen Konfessionen untereinander gründlicher vergleichen, zeigt sich ebenso, dass die Anhänger des Wohlstandsevangeliums ärmer sind als der Durchschnitt. Wenn man bedenkt, dass das Wohlstandsevangelium am weitesten unter Pfingstgemeinden verbreitet ist, erweist sich der betrügerische Charakter dieser Irrlehre am deutlichsten. Die Pfingstgemeinden setzen sich nämlich (abgesehen von den Baptistengemeinden der Schwarzen) aus den ärmsten Bevölkerungsschichten zusammen. 48 Prozent der Mitglieder verdienen weniger als 30.000 Dollar im Jahr, nur sieben Prozent mehr als 100.000 Dollar. Dem stehen 31 bzw. 18 Prozent der gesamten christlichen Bevölkerung gegenüber.
Die Verheissungen des Wohlstandsevangeliums sind eindeutig ein schlechter Scherz. Man könnte noch weit schärfere Worte benutzen. Wenn man sieht, wie dessen Vertreter die hoffnungslose Lage ihrer Gemeindemitglieder ausnutzen, kann man es nur als Finanzschwindel betrachten. In diesem Sinn besteht hier kein grosser Unterschied zum Kundenkreditgeschäft. Denn genau welche Gesellschaftsschicht hat sich in der Geschichte als der profitabelste Kreditmarkt für Geldinstitute erwiesen (zumindest bis zur Weltfinanzkrise)? Die Armen. Diesen verlangt man hohe Kreditgebühren und Zinsraten ab, und gewöhnlich zahlen sie hohe Sollzinsen und exorbitante Entgelte für ihre Kreditkarten. Ebenso dient dieses «Evangelium» mit Sicherheit nicht dazu, den «Gefangenen Befreiung zu verkünden», wie es Christi Auftrag war (Lk 4,18).
Von Wilfred J. Hahn