In der sogenannten
«Ersatztheologie» geht es darum, dass die Gemeinde das Volk Israel in Gottes
Heilsplan ersetzt hat. Einige Vertreter dieser Lehrmeinung mögen das Wort
«Ersatztheologie» nicht sonderlich. Es klingt zu negativ, zu judenfeindlich –
vor allem, wenn man die unrühmliche Geschichte des Judenhasses im Namen Christi
unter die Lupe nehmen würde. Sie sprechen lieber von einer
«Erfüllungstheologie»: «Israel war einfach ein Bild für das wahre Volk Gottes,
das die Gemeinde erfüllt.»
Dies mag weniger hart
klingen, doch letztendlich kommt es aufs Gleiche heraus: In der Theologie, die
die Gemeinde zum neuen Israel erklärt, wird ein Volk (die Juden) durch das
andere (die Gemeinde) ersetzt. Daher ist der gebräuchliche Ausdruck «Ersatztheologie»
eine durchaus korrekte Bezeichnung für diese Lehre.
Es gibt verschiedene Formen
von Ersatztheologie. Der Theologieprofessor Michael J. Vlach unterscheidet drei
verschiedene Variationen:
1. Die strafende
Ersatztheologie. Sie betont, dass Israel aufgrund seines Ungehorsams von Gott
bestraft und für immer durch die Gemeinde ersetzt wurde. (Luther war zum
Beispiel ein Vertreter dieser Lehre.)
2. Die ökonomische
Ersatztheologie. Sie lehrt, dass es ein Teil von Gottes Heilsplan war, eine
ethnische Gruppe (die Juden) durch eine universale Gruppe (die Gemeinde) als
Gottes Volk zu ersetzen. Die Vertreter dieser Sicht sprechen davon, dass die
Gemeinde eine Fortführung des alttestamentlichen Volkes Israel ist. (Diese
Meinung vertreten wahrscheinlich die meisten Ersatztheologen heute.)
3. Die strukturelle
Ersatztheologie. Die meisten Ersatztheologen ignorieren laut dem Bibellehrer R.
Kendall Soulen grosse Teile des Alten Testaments, weil diese (angeblich) vom
Neuen Testament übertrumpft und umgedeutet werden. Dies nennt er eine
strukturelle Ersatztheologie, die nicht in erster Linie mit einer bestimmten
theologischen Überzeugung (wie die obigen beiden Punkte) zu tun hat, sondern damit,
wie man die Bibel liest.
Kurz zusammengefasst lehrt
die Ersatztheologie Folgendes: Die Gemeinde bzw. Kirche ist jetzt das wahre
Israel, die das alttestamentliche Volk Israel als Gottes Volk ablöst oder
fortführt. Ausserhalb der Gemeinde aus Juden und Heiden (Rest der Welt) werden
die Juden in Gottes Plan niemals mehr eine besondere Rolle spielen.
Erstaunlicherweise führt
diese Sicht jedoch nicht immer dazu, dass Israel gar keine Bedeutung mehr hat.
Es gibt moderate Formen der Ersatztheologie, deren Befürworter durchaus eine
Erlösung Israels in der Endzeit sehen. So war im von Ersatztheologie geprägten
17. Jahrhundert unter englischen Puritanern und niederländisch-reformierten
Theologen der Glaube an eine zukünftige Erlösung Israels üblich.
Diese Lehrmeinung scheint
auch heute unter Ersatztheologen recht weit verbreitet zu sein. Doch obwohl
mancher an eine zukünftige Erlösung des Volkes Israel glaubt (vgl. Röm 11,26),
lehnen alle Ersatztheologen eine zukünftige Wiederherstellung Israels ab. Was
ist der Unterschied?
Unter Wiederherstellung
verstehen wir eine von der Gemeinde unabhängige und sich von allen Nationen
unterscheidende einzigartige zukünftige Rolle Israels in seinem Land, wie das
Alte Testament es verspricht. Dies können Ersatztheologen nicht akzeptieren,
weil sie nur ein Bundesvolk Gottes sehen (das Neue Testament übertrumpft das
Alte). Demnach wird das ethnische Volk Israel nach seiner in der Zukunft
liegenden Bekehrung bestenfalls in die Gemeinde aufgenommen, aber keine eigenständige
Rolle in Gottes Plan mehr erfüllen.
Diese Sichtweise können wir
nicht akzeptieren. Wir glauben, dass das Neue Testament die im Alten Testament
begonnene Offenbarung Gottes abschliesst und nicht umdeutet. Wenn wir
das Alte Testament lesen, suchen wir die Bedeutung des Textes in erster Linie in
dem, was der alttestamentliche Autor tatsächlich ausgesagt hat (und lesen nicht
«Gemeinde» hinein). Der bekannte reformierte Ersatztheologe Loraine Boettner (1901-1990)
gab selbst sogar Folgendes zu: «Man ist sich im Allgemeinen einig, dass die
Prophezeiungen, wenn man sie wörtlich nimmt, eine Wiederherstellung der Nation
Israel im Land Palästina vorhersagen, wobei die Juden in diesem Königreich eine
herausragende Stellung haben und über die anderen Nationen herrschen.»
Bis heute hat kein
Ersatztheologe zweifelsfrei beweisen können, dass wir die alttestamentlichen
Verheissungen für das Volk Israel nicht wörtlich nehmen dürfen. Und das
Neue Testament lehrt an keiner Stelle, dass die Gemeinde Jesu Israel abgelöst
hätte oder dass die Juden ihre Verheissungen verloren hätten (vgl. Apg 1,6-7;
Röm 9,4; 11,29).
Darum glauben wir, dass auch
die moderateste Form von Ersatztheologie die Juden beraubt. Sie ist schlicht
und ergreifend christlich verbrämter Diebstahl von alttestamentlichen
Versprechungen an das jüdische Volk.
Von
René Malgo