14.01.2013

Endzeitwahn?


Regen prasselte gegen die Scheibe. Es war dunkel draussen. Ein Mann stand am Fenster. Erwartungsvoll schaute er in die Nacht hinaus. Er dachte an die Wiederkunft seines Herrn Jesus Christus. Sein Herz brannte. Er glaubte fest daran, dass Jesus zu seinen Lebzeiten wiederkommen würde. Ja, er war ein Mann, der die Erscheinung des Herrn wirklich lieb hatte (2.Tim 4,8). Inzwischen hat sein Herr ihn geholt … auf natürlichem Weg, durch den Tod. Seitdem sind viele Jahre vergangen. Er hat ein Vermächtnis hinterlassen: Viele Bücher, Botschaften und Artikel über die Wiederkunft seines geliebten Herrn und Heilandes Jesus Christus. Doch bis heute ist der Herr nicht wiedergekommen.

Es war wohl in den 1970er und 1980er Jahren, als die gesamte Christenheit – so scheint es – von einer fiebrigen Erwartung der Rückkehr Jesu erfasst wurde. Auf zahlreichen Kanzeln wurde Seine baldige Wiederkunft verkündigt. Filme, Bücher, Traktate, CDs, Kassetten wurden zum Thema veröffentlicht. Die Zeichen der Zeit waren eindeutig. Israel hatte wieder einen eigenen Staat in seiner jahrtausendealten Heimat. Das war ein beispielloses Gotteswunder! Die Juden hatten ausserdem ganz Jerusalem eingenommen. Sie schienen unbesiegbar. Es war wirklich wahr: Gott hatte Israel nicht verworfen. Jetzt konnte es jeder mit seinen eigenen Augen sehen. Die politischen Ereignisse schienen eine punktgenaue Erfüllung biblischer Prophetie zu sein. Europa strebte immer mehr nach Einheit. Das Römische Reich erwachte. Die Drohung, die von der grossen UdSSR ausging, musste doch eine prophetische Bedeutung haben. Sicherlich hatte man es hier mit Gog aus Magog zu tun …

Jahrzehnte später: Die EU wackelt. Die Sowjetunion war doch nicht so gross und mächtig, wie sie sich gab. Israel hat seinen Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren. Die Teilung des Landes und Jerusalems scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Es sind mittlerweile Dinge geschehen, die die besten Ausleger der biblischen Prophetie nicht vorausgesehen haben, zum Beispiel die Eurokrise oder den Arabischen Frühling.

Inzwischen ist eine neue Generation von Christen herangewachsen. Neue Prediger besteigen die Kanzeln. Diese jungen Männer, geboren in den 1970er und 1980er Jahren, haben oft wenig Verständnis für den – wie sie es verächtlich nennen – «Endzeitwahn» ihrer Väter. Sie interessieren sich mehr für das erste Kommen ihres Herrn, als für Sein zweites Kommen. Themen wie Entrückung oder Israel haben an Bedeutung verloren. Die neuen Calvinisten mit ihrer Betonung des Evangeliums, der Gemeinde und Systematischen Theologie gewinnen derzeit an unerwarteten Zuwachs.

Hat uns die Vergangenheit etwa gelehrt, dass eine intensive Auseinandersetzung mit den Letzten Dingen nur leidlich relevant ist und letztendlich falsche Hoffnungen weckt? Ich glaube nicht. Die Betonung des Evangeliums ist sehr positiv. Der Wunsch nach Nüchternheit und Verzicht auf Spekulation spricht mir aus dem Herzen. Aber meine Generation, die sich durch die vermeintlichen Mutmassungen vieler ihrer Glaubensvorbilder enttäuscht sieht, läuft Gefahr, gerade so unnüchtern zu werden wie sie es ihren Vätern vorwirft – und zwar in die andere Richtung: Auf einmal ist zukunftsbezogene Prophetie überhaupt nicht mehr wichtig. Jetzt heisst es: Ja, Jesus kommt wieder, irgendwann, darauf freuen wir uns schon, irgendwie, aber der Rest ist nicht so wichtig. Entrückung? «Gibt es vielleicht doch nicht.» Israel? «Wurde vielleicht doch durch die Gemeinde ersetzt.» Trübsal? «Hat vielleicht doch schon stattgefunden.» Tausendjähriges Reich? «Ist vielleicht doch kein Thema, über das man sich den Kopf zerbrechen sollte.» Jesus kommt bald? «Na und.» Wirklich?

Bei allem, was man den begeisterten Prophetie-Experten der Vergangenheit auch vorwerfen könnte, sie hatten doch ein grosses Verlangen nach der Wiederkunft unseres Erlösers. Und dieses Verlangen sollte jeder Christ haben. Meine Generation darf die Prophetie der Bibel nicht vergessen oder vernachlässigen, nur weil Männer, die Jesus und Seine Erscheinung über alles liebten, sich auch irrten. Es ist Zeit, dass wir zurückkehren zum brennenden Verlangen unserer Väter nach der Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus. Wir können aus ihren Fehlern lernen, ohne dabei ihre Errungenschaften zu unterschlagen. Dies ist mein bescheidener Aufruf …

Von René Malgo