Bedeutende Aspekte im
Buch Josua – Teil I
Zu einem biblischen
Verständnis von Josua 21,43-45. Teil 6.
Drei wesentliche Passagen im
Buch Josua helfen, Josua 21,43-45 angemessen auszulegen: 1. Gottes erster
Befehl an Josua (1,1-4); 2. die Aufteilung des Landes unter das Volk Israel
(13-21), was eine eigene Einheit innerhalb des Buches ist; 3. und die
Zusammenfassung, mit der Gott diese Einheit eröffnet (13,1-7).
Gottes erster Befehl an
Josua (1,1-4) begann mit spezifischen Angaben zum Grenzverlauf, mit denen Josua
gut vertraut gewesen sein dürfte: «Und es geschah nach dem Tod Moses,
des Knechtes des Herrn, da sprach der Herr zu Josua: Mein Knecht
Mose ist gestorben; so mache dich nun auf, ziehe über den Jordan dort,
du und dieses ganze Volk, in das Land, das ich ihnen gebe, den
Kindern Israels! Jeden Ort, auf den eure Fusssohlen treten, habe ich
euch gegeben, wie ich es Mose verheissen habe. Von der Wüste und dem
Libanon dort bis zum grossen Strom Euphrat, das ganze Land der
Hetiter, und bis zu dem grossen Meer, wo die Sonne untergeht, soll euer
Gebiet reichen.»
Die Erwähnung des Euphrats
in Josua 1,4 ist äusserst bedeutend. Erstens, wie bereits aufgezeigt, hatte
Gott den Euphrat schon viermal als Teil der Landesgrenzen genannt [s. Teil 4]:
zunächst bei der Bestätigung des abrahamitischen Bundes (1.Mo 15,18), dann am Sinai,
vor der Bestätigung des Bundes mit Mose (2.Mo 23,31), und schliesslich zweimal
in 5. Mose (1,7; 11,24). Zweitens ist Josua 1,4 die einzige Stelle im ganzen
Buch Josua, in der der Euphrat vorkommt; allerdings finden wir keinen einzigen
Hinweis darauf, dass die Israeliten sich jemals aufgemacht hätten, diese Gegend
zu erkunden, so wie sie einige Jahrzehnte zuvor das Land erkunden liessen (4.Mo
13). Damals war Josua einer der zwölf Kundschafter gewesen. Überdies wurde auch
keinem der Stämme Israels ein Landstrich am Euphrat als Anteil zugewiesen. Es
sollte auch zur Kenntnis genommen werden, dass Josua die Verheissungen und die
Warnungen aus 3. Mose 26 und 5. Mose 28-30 (die ja erst vor Kurzem gegeben
worden waren) recht gut kannte, ebenso wie die endgültige Zukunftshoffnung
sowohl für das Land als auch für das Volk Israel, wie sie in 3. Mose 26,40-45
offenbart wurde.
Ein anderer wichtiger
Gesichtspunkt, der häufig von denjenigen vernachlässigt wird, die Josua
21,43-45 als Beleg dafür zitieren, dass Gott die Landesverheissungen des
abrahamitischen Bundes bereits erfüllt habe, ist die beschriebene Aufteilung
des Landes in Josua 13-21. Josua 13-21 ist ein Segment innerhalb des Buches,
und die einzelnen Kapitel müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden.
Tatsächlich sind die drei Schlussverse dieses Abschnitts in Josua 21,43-45
«eine herrliche Zusammenfassung» der Landaufteilung. Die Eröffnung dieses
Abschnitts (Jos 13,1) ist insofern äusserst wichtig, als hier Gott selbst
sowohl das von Ihm bereits Erreichte bewertete als auch das, was noch zu
vollbringen war: «Als nun Josua alt und wohlbetagt war, sprach der
Herr zu ihm: Du bist alt und wohlbetagt geworden, doch es bleibt
noch sehr viel Land einzunehmen.» Jahwe skizzierte dann Gebiete innerhalb
des Landes, die ein Teil von dem «noch sehr viel Land» waren, das eingenommen
werden musste:
«Dies aber ist das Land, das
noch
einzunehmen bleibt: nämlich alle Bezirke der Philister und das ganze
Geschuri: vom Sihor an, der östlich von Ägypten fliesst, bis zu
dem Gebiet von Ekron, nach Norden zu, das zu den Kanaanitern gerechnet
wird, die fünf Fürsten der Philister, nämlich der von Gaza, der
von Asdod, der von Askalon, der von Gat, der von Ekron; auch die Awwiter;
gegen Süden das ganze Land der Kanaaniter, und Maara der Zidonier, bis
nach Aphek, bis an die Grenze der Amoriter; dazu das Land der
Gibliter und der ganze Libanon, gegen Aufgang der Sonne, von Baal-Gad
an, am Fuss des Berges Hermon, bis man nach Hamat kommt: alle, die im
Bergland wohnen, vom Libanon an bis Misrephot-Majim, und alle
Zidonier. Ich will sie vor den Söhnen Israels vertreiben; teile
sie nur als Erbbesitz unter Israel durch das Los, so wie ich dir geboten
habe! So teile nun dieses Land als Erbe aus unter die neun Stämme und
den halben Stamm Manasse!» (Jos 13,2-7).
Weil Josua 13,1-7 also über
Teile des Landes Kanaan spricht, steht ausser Frage, dass Israel in den Tagen
Josuas nie das ganze Land besessen hat, wie es Gott im abrahamitischen Bund festgelegt
hatte – ganz zu schweigen vom zusätzlichen Hinweis in Josua 1,4 auf das Gebiet
am Euphrat, das sich nun wirklich ausserhalb des bereits eingenommenen Landes
befand. Dieses offensichtliche Versagen, das ganze von Gott verheissene Land
einzunehmen, wird sowohl im dispensationalistischen als auch im gegnerischen
Lager betont. Bezüglich der Landesverheissungen an Israel vertreten einige die
klare Lehre, dass «die Israeliten nie in den unbestrittenen Besitz des ganzen
verheissenen Landes in seiner vollen Ausdehnung bis an die in 4. Mose 34,1-12
festgelegten Grenzen gekommen sind; so haben sie zum Beispiel nie Tyrus und Sidon
erobert». John Bright schreibt, die Verheissung habe erst «begonnen, erfüllt zu
werden – wenngleich sie nie vollständig erfüllt wurde –, als ihnen das verheissene
Land gegeben wurde». Richard S. Hess bemerkt den Kontrast zwischen der Treue
Gottes und Israels unvollständigem Gehorsam und fügt hinzu: «Daher kommt die
Tendenz, hier einen Prozess der Enteignung zu sehen. Israel hatte unter Gott
begonnen, aber dann versagte das Volk und konnte es nicht vollenden. Dieses Versagen
war eine Folge ihres Ungehorsams – sie hatten versagt, den Prozess der
Landnahme bis zum Ende durchzuziehen.» Mabie erklärt eingehender, wie unvollständig
Israel zu Lebzeiten Josuas das Land erobert hatte:
«Es wird allgemein
angenommen (das ist aber im Allgemeinen eine Fehldeutung), dass nur im Buch der
Richter die Unvollständigkeit der Landnahme thematisiert wird. Sowohl Josua als
auch Richter reflektieren die Realität unbesiegter Völker, Städte und Regionen.
Tatsächlich kommt nach der Aufzählung der besiegten Könige [Jos 12] eine
abschreckende Liste der nicht eingenommenen Regionen vom tiefsten Süden bis zum
äussersten Norden, besonders in der Küstenebene, im Tal Jesreel und den Tälern
um Beth Schean (Jos 13,1- 6.13). Ähnlich werden während der Landverteilung
andere nicht eingenommene Gebiete erwähnt (vgl. Jos 15,63; 16,10; 17,11-16). So
werden am Zelt der Begegnung in Silo die Israeliten gerügt, weil sie ‹lässig
waren›, das Land einzunehmen – sieben Stämme hatten ihr Erbe noch nicht
erhalten (Jos 18,1-3).»
Davis macht eine gute
Zusammenfassung von Josua 13,1: «In gewisser Hinsicht waren diese Regionen
Grenzgebiete Israels. Daraus lässt sich ableiten, dass Israel im Kerngebiet
Kanaans ein hohes Mass an Überlegenheit erzielt hatte. Nicht, dass diese
Überlegenheit absolut gewesen wäre, aber sie war beträchtlich.»
Josua 21,43-45 beschliesst
also die Kapitel der Landverteilung und ist daher von strategischer Bedeutung
für das Verständnis des gesamten Buches: «Diese Passage ist eine theologische Schlussfolgerung
des ganzen Buches bis zu diesem Punkt … Der Herausgeber betont hier die
Vollständigkeit von Gottes Werk … In welcher politischen Situation auch immer
Israel sich in einer späteren Generation befinden sollte – ob Reichsteilung oder
der Fall des Nordreichs oder dann die Zerstörung Jerusalems und das Exil –,
Israel konnte nicht Gott dafür verantwortlich machen. Gott war treu und hatte
für Israel alles getan, was er versprochen hatte. Die Schuld lag bei Israel, nicht
bei Gott.»
Nachdem er Israels Versagen,
das Land vollständig in Besitz zu nehmen, angemerkt hat, beklagt Davis, dass
die wahre Bedeutung von Josua 21,43-45 von manchen vernachlässigt wird, und fügt
mit beredten Worten hinzu: «Zuletzt müssen wir das grossartige Zeugnis von Jahwes
Treue ansehen. Diese Passage ist das theologische Herzstück des Buches Josua;
sie ist ein bewusster Widerhall von 1,1-9 (vgl. bes. V 2-3 und 5-6) und zieht
einen Schlussstrich unter alles Vorangegangene. Dies ist die Halsschlagader des
Buches. Und doch, in zwei in den letzten zwanzig Jahren veröffentlichten,
grossen Kommentaren wurden dieser Stelle nur neun bzw. fünf Zeilen gewidmet –
ein unverzeihlicher Fehler.»
Von
Greg Harris