05.11.2010

Biblische Lehre: Der Kampf um die Wahrheit

Wer hätte je gedacht, dass Menschen, die behaupten Christen zu sein (sogar Pastoren), den Begriff der Wahrheit schlechthin angreifen würden? Aber genau das tun manche.
Eine jüngere Ausgabe von Christianity Today brachte eine Titelgeschichte über die «Emerging Church». Dies ist der landläufige Name einer weltweiten informellen Vereinigung christlicher Gemeinschaften. Sie will die Gemeinde aufpolieren, die Art und Weise verändern, wie Christen und ihre Kultur sich gegenseitig beeinflussen, und die Art und Weise umgestalten, wie über die Wahrheit an sich gedacht wird. Ein Thema beherrscht und durchzieht den ganzen Artikel: In der Emerging- Church-Bewegung nimmt man an, dass Wahrheit (sofern ein solches Konzept überhaupt bis zu einem gewissen Grad anerkannt wird) an sich verschwommen, unbestimmt und ungewiss ist – vielleicht sogar bis zu dem Punkt, dass sie unerkennbar ist. Im Artikel drückt jeder der aufgeführten Emerging-Church-Leiter in hohem Masse seine Unzufriedenheit mit auch nur der geringsten Gewissheit darüber aus, was die Bibel bedeutet, ja sogar über etwas so grundlegendes wie das Evangelium.
Der Gedanke, dass die christliche Botschaft biegsam und verschwommen sei, scheint insbesondere auf junge Leute anziehend zu wirken, die auf einer Wellenlänge mit der Kultur und in den Zeitgeist verliebt sind. Sie können es nicht ertragen, dass man massgebliche biblische Lehre präzise als Korrektiv auf einen weltlichen Lebensstil, unheiliges Denken und gottloses Verhalten anwendet. Und das Gift dieser postmodernen Anschauung wird den evangelikalen Gemeinden mehr und mehr eingeimpft. Doch das ist kein echtes Christentum. Nicht zu wissen, was man glaubt (besonders was Dinge betrifft, die für das Christentum unverzichtbar sind, wie etwa das Evangelium), ist per Definition eine Art Unglaube. Wenn man sich weigert, die von Gott geoffenbarte Wahrheit anzuerkennen und zu verteidigen, ist das eine ausgesprochen sture und verderbliche Art des Unglaubens. Mehrdeutigkeit zu verfechten, Ungewissheit zu verherrlichen oder die Wahrheit auf andere Weise absichtlich zu vernebeln, ist eine sündige Art und Weise, den Unglauben zu nähren.
Jeder wahre Christ sollte die Wahrheit kennen und lieben. Die Schrift sagt, dass einer der wesentlichen Charakterzüge derer, «die verloren gehen» (Menschen, die aufgrund ihres Unglaubens verdammt werden), der ist, dass sie «die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben, durch die sie hätten gerettet werden können» (2.Thess 2,10). Damit ist eindeutig gemeint, dass rettender Glaube echte Liebe zur Wahrheit beinhaltet. Sie ist darum ein Erkennungsmerkmal jedes wahren Gläubigen. Mit Jesu Worten: Sie haben die Wahrheit erkannt, und die Wahrheit hat sie frei gemacht (Joh 8,32).
Niemals ist Salomos weiser Rat zeitgemässer gewesen, als zu einer Zeit, in der man selbst das Konzept der Wahrheit verachtet und angreift (sogar innerhalb der Gemeinde, wo man den Allerhöchsten doch verehren sollte): «Kaufe Wahrheit und verkaufe sie nicht» (Spr 23,23).
Nichts auf der Welt ist wichtiger oder wertvoller als die Wahrheit. Und von der Gemeinde wird erwartet, dass sie «der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit» ist (1.Tim 3,15).
Die Geschichtsschreibung ist voller Berichte von Menschen, die lieber Folter oder Tod in Kauf nahmen, als die Wahrheit zu verleugnen. In früheren Generationen hielt man es allgemein für heldenhaft, sein Leben für etwas, woran man glaubte, hinzugeben. Das ist mittlerweile nicht mehr unbedingt so.
Denken Sie an die Zeugnisse der christlichen Märtyrer während der gesamten Geschichte. Sie waren tapfere Kämpfer für die Wahrheit. Sie waren natürlich weder Terroristen noch Gewalttäter. Aber sie «kämpften» für die Wahrheit, indem sie diese angesichts grimmigen Widerstands verkündigten. Sie führten ein Leben, das die Kraft und Güte der Wahrheit bezeugte. Und sie weigerten sich um der Wahrheit willen, dem Glauben abzuschwören, egal welche Drohungen man gegen sie ausstiess.
Dieses Verhaltensmuster fängt bei der ersten Generation der Kirchengeschichte – den Aposteln selbst – an. Sie alle, ausgenommen vielleicht Johannes, starben als Märtyrer. (Aber auch Johannes zahlte einen hohen Preis dafür, für die Wahrheit einzutreten, denn er wurde um seines Glaubens willen gefoltert und ins Exil verbannt.) Sie liebten die Wahrheit, kämpften dafür und starben schliesslich auch für sie. Und eben dieses Erbe reichten sie an die nächste Generation weiter.
Ignatius und Polykarp zum Beispiel waren frühe christliche Kämpfer für die Wahrheit. Beide waren persönliche Freunde und Schüler des Apostels Johannes; sie lebten und wirkten also, als das Christentum noch sehr jung war. Die Geschichtsschreibung überliefert, dass beide lieber freiwillig ihr Leben liessen, statt Christus zu verleugnen und sich von der Wahrheit abzuwenden. Ignatius wurde durch Kaiser Trajan persönlich verhört, der verlangte, er solle öffentlich den Götzen opfern, um seine Loyalität gegenüber Rom zu beweisen. Ignatius hätte sein Leben retten können, hätte er diesem Druck nachgegeben. Manche dürften versuchen, eine solche erzwungene äusserliche Handlung zu entschuldigen, solange man Christus nicht im Herzen verleugnet. Doch die Wahrheit war Ignatius wichtiger als sein Leben. Er weigerte sich, den Götzen zu opfern, und Trajan befahl, dass er zur Belustigung der heidnischen Massen in der Arena den wilden Tieren vorgeworfen werden sollte.
Auch Ignatius’ Freund Polykarp wurde von der Obrigkeit gesucht, weil er als Anführer der Christen bekannt war. Er stellte sich freiwillig, obwohl er genau wusste, dass es ihn das Leben kosten würde. Als man ihn in der Arena einem blutrünstigen Mob vorführte, befahl man ihm, Christus zu verfluchen. Polykarp weigerte sich und sagte: «Sechsundachtzig Jahre habe ich ihm gedient und er hat mir niemals Unrecht getan. Wie sollte ich dann meinen König lästern, der mich gerettet hat?» Er wurde auf der Stelle bei lebendigem Leib verbrannt.
In jeder Generation hat es in der gesamten Kirchengeschichte zahllose Märtyrer gegeben, die auf gleiche Weise lieber starben, als die Wahrheit zu verleugnen. Waren sie nur Narren, die zu viel von ihren Überzeugungen hielten? War ihre unbedingte Zuversicht auf das, was sie glaubten, tatsächlich fehlgeleiteter Eifer? War ihr Tod vergeblich?
Viele denken heutzutage erwiesenermassen so – einschliesslich mancher, die sich zum Glauben an Christus bekennen. Da sie in einer Kultur leben, in der gewaltsame Verfolgung nahezu unbekannt ist, scheinen ganze Massen solcher, die sich Christen nennen, vergessen zu haben, was die Treue zur Wahrheit oft kostet. Sagte ich «oft»? Es ist eine Tatsache, dass Treue zur Wahrheit immer auf die eine oder andere Weise ihren Preis hat (2.Tim 3,12). Genau das ist der Grund, warum Jesus darauf bestand, dass jeder, der Sein Jünger sein will, bereit sein muss, sein Kreuz auf sich zu nehmen (Lk 9,23-26).
Die evangelikale Bewegung selbst muss einen Teil der Schande dafür auf sich nehmen, die Wahrheit entwertet zu haben, indem sie den Leuten in den Ohren kitzelt (2.Tim 4,1-4). Kann sich wirklich jemand vorstellen, dass viele der vergnügungssüchtigen Kirchgänger, die die heutigen Grossgemeinden bevölkern, willig wären, ihr Leben für die Wahrheit hinzugeben? Es ist tatsächlich so, dass viele von ihnen unwillig sind, tapfer für die Wahrheit Stellung zu beziehen, selbst unter anderen Christen in einer Umgebung, wo keine ernsthafte Bedrohung für sie besteht und wo die schlimmste Auswirkung einer derartigen Stellungnahme wäre, dass vielleicht jemand in seinen Gefühlen verletzt wird.
Viele in der sichtbaren Gemeinde von heute scheinen zu denken, man erwarte von Christen eher, dass sie sich mit Spielen beschäftigen, statt im Krieg zu sein. Der Gedanke, tatsächlich für wahre Lehre zu kämpfen, ist etwas, das den meisten Kirchgängern am wenigsten in den Sinn kommt. Zeitgenössische Christen sind entschlossen, die Welt dazu zu bewegen, dass sie sie mag – und natürlich wollen sie dabei auch so viel Spass wie möglich haben. Sie sind so sehr davon besessen, die Gemeinde für Ungläubige «cool» erscheinen zu lassen, dass man sie nicht mit Fragen darüber belästigen darf, ob jemandes Lehre gesund ist oder nicht. In einem solchen Klima ist der Gedanke daran, jemandes Lehre auch nur falsch zu nennen (geschweige denn «für den Glauben zu kämpfen»), ein abscheuliches und gefährliches Ansinnen, das aus einer Gegenkultur stammt. Christen sind der Meinung auf den Leim gegangen, dass es in den Augen der Welt wohl nichts «Uncooleres» gibt, als wenn jemand sich ernsthaft über die Gefahren der Irrlehre besorgt zeigt. Schliesslich nimmt die Welt geistliche Wahrheit einfach nicht so ernst; daher kann sie nicht verstehen, warum dies überhaupt jemand tun sollte.
Doch von allen Menschen sollten Christen diejenigen sein, die am bereitwilligsten für die Wahrheit leben und sterben. Bedenken Sie: Wir kennen die Wahrheit, und die Wahrheit hat uns frei gemacht (Joh 8,32). Wir sollten uns nicht schämen, dies offen zu bekennen (Ps 107,2). Und sollte man von uns fordern, unser Leben um der Wahrheit willen zu opfern, müssen wir dazu willens und darauf vorbereitet sein. Nochmals: Genau das meinte Jesus, als Er Seine Jünger aufrief, ihr Kreuz auf sich zu nehmen (Mt 16,24). Feigheit und echter Glaube sind unvereinbare Gegensätze.
Von John MacArthur