Die Gemeinde ist nicht Israel, und Israel ist nicht die Gemeinde. Aber immer mehr Christen erkennen heute den Unterschied nicht mehe. Sie wurden so mit der Ersatztheologie indoktriniert, dass sie sich selbst als „das neue Israel” ansehen und das jüdische Volk als aufgegeben.
Wie konnte sich dieser Glaube so tief in der Gemeinde festsetzen, wenn es doch nicht die Theologie der Apostel und der ersten – oder zweiten – Generation von Gemeindeführern war? Weil dieser Glaube Vorurteile gegen das jüdische Volk rechtfertigt.
Die Ersatztheologie begann sich im zweiten und dritten Jahrhundert der Gemeinde zu entwickeln und etablierte sich ungefähr 200 Jahre nachdem die Gemeinde begann. Sie ergab sich nicht aus einem sorgfältigen Studium der Schrift. Tatsächlich wurde zuerst die Position formuliert und dann fand man Schriftstellen um diese Position zu unterstützen. Das ist der falsche Weg, um eine Theologie zu entwerfen. Theologie sollte aus dem gründlichen Studium von Gottes Wort entstehen. Man darf nicht zuerst eine Theologie definieren und sich dann auf die Suche nach Begründungen in der Schrift machen.
Ein Grund warum die Ersatztheologie so vorherrschend geworden ist, ist dass sie intellektuell so reizvoll ist. Sie komplex zu vertreten erfordert Gehirnakrobatik mit Gottes Wort, und selbst dann findet man nicht völlige Unterstützung in der Schrift. Aber für viele ist dieser Sport sehr attraktiv.
Die Ersatztheologie entwickelte sich anfangs, um eine Voreingenommenheit gegen das jüdische Volk in den frühen Jahren der Gemeinde zu rechtfertigen. Sie wurde zu einer Grunddoktrin in der römisch-katholischen Kirche, und die Väter der Reformation korrigierten zwar viel schlechte Theologie, als sie die protestantische Bewegung bildeten, aber die Ersatztheologie nahmen sie mit.
Von den Juden zu den Heiden
In der Apostelgeschichte 2 fing die Gemeinde mit dem Kommen des Heiligen Geistes an, und ihre frühen Leiter waren jüdisch. Es war eine jüdische Gesellschaft, hauptsächlich aus Juden bestehend, die ihr Vertrauen in Jesus den Messias setzten. Aber um das Jahr 70 n. Chr. begann ein Wechsel. Jerusalem und der zweite Tempel wurden zerstört, die Gemeinde in Jerusalem wurde zerstreut und heidnische Führer übernahmen die Leitung. Zum Ende des ersten Jahrhunderts gab es schätzungsweise 100‘000 Christen im Römischen Reich und ungefähr 6 Millionen Juden.
Aber am Ende des zweiten Jahrhunderts – gerade mal 100 Jahre später – war die Gemeinde auf etwa 7 Millionen Christen angewachsen, so viele wie es damals Juden gab. Fast das gesamte Wachstum hatte unter den Heiden stattgefunden, die jetzt die Christenheit dominierten.
Unterdessen leistete auch ein römisches Gesetz einen Beitrag zu der christlichen Feindseligkeit gegenüber dem jüdischen Volk. Nach diesem Gesetz war jede Religion, die schon vor dem Römischen Reich existierte, legal und durfte öffentlich ausgeübt werden. Aber jede Religion, die erst danach entstanden ist, war illegal und musste ausgelöscht werden. Das Christentum begann lange nach dem Römischen Reich, aber das Judentum gab es schon viele Jahrhunderte früher. Also betrachtete Rom das Judentum als legal, aber das Christentum als illegal und begann, die Christen zu verfolgen.
Christliche Führer argumentierten, dass das Christentum lediglich eine Sekte des Judentums sei. Aber weil die jüdischen Führer diese Position nicht unterstützten, stimmte Rom nicht zu, und eine grosse Verfolgung kam über die Gemeinde. Die Christen nahmen es übel, dass ihre jüdischen Nachbarn nichts zu ihrer Verteidigung taten und begannen, das Judentum als eine Bedrohung zu sehen. Sie meinten, dass alle Juden Jesus Christus als den Messias annehmen sollten und dass das Judentum aufhören sollte. Die Feindseligkeit wuchs, und etwa 150 Jahre nach Beginn der Gemeinde zeigte sie sich deutlich in der Führung der Gemeinde.
Irenäus, der Bischof von Lyon (177-195 n. Chr.), sagte dem jüdischen Volk: „Die Schrift gehört nicht euch sondern uns”. Er behauptete, dass die Juden nicht mehr die Erben von Gottes Gnade seien, und dass die Gemeinde das neue oder wahre Israel sei.
Einige Jahre später schrieb Tertullian (160-225 n.Chr.) Gegen die Juden, worin er sagte, dass Gott die Juden abgewiesen und Israel zu einem Diener der Gemeinde gemacht habe. Auf der Grundlage seiner bizarren Interpretation des Satzes, dass der Ältere dem Jüngeren dienen wird (1. Mose 25:23), schrieb er, dass Gott die Juden verworfen hat und zog den Schluss, wenn Israel noch irgendeine Rolle spiele, dann die eines Dieners der Gemeinde. Der Vers hat aber gar nichts mit der Gemeinde zu tun, sondern bedeutet tatsächlich, dass die Nachkommen Esaus Israel dienen würden.
300 Jahre nach dem Beginn der Gemeinde schrieb Eusebius (4. Jh. n. Chr.), dass die hebräischen Schriften für die Christen seien, nicht für die Juden, und dass nur die Flüche darin für Israel gelten. Alles andere gelte für die Gemeinde, denn die Gemeinde sei die Fortsetzung des Alten Testaments und habe deshalb das Judentum ersetzt.
Das Aufkommen der Allegorie
Die frühen Kirchenväter distanzierten sich von allem Jüdischen und sahen die Bibel als ein vollständig nichtjüdisches Dokument. Und sie erforschten die griechische Kultur um einen Weg zu finden, solche Schriftstellen, die deutlich zeigen, dass Gott immer noch einen Plan für Israel hat, so zu benutzen, dass sie genau das Gegenteil aussagen. Hierzu benutzten sie Allegorien.
Allegorien schreiben Worten und Sätzen eine übertragene, vergeistlichte Bedeutung zu. Sie wurden im Römischen Reich populär, als die Intellektuellen damit verschiedene griechische Klassiker wie zum Beispiel die Ilias von Homer neu interpretierten, um sie für die damalige Gesellschaft attraktiver zu machen. Einige Kirchenväter begannen, dieselbe Methode in der Schrift anzuwenden, insbesondere bei den noch unerfüllten Prophetien. Origenes (185-254 n.Chr.) war der Erste, der systematisch unerfüllte Prophetien allegorisch auslegte. Er argumentierte, dass die Schrift immer zwei Bedeutungen habe, die wörtliche und die so genannte geistliche, und er mass der „Geistlichen” eine höhere Bedeutung bei. Folglich verband man eine wörtliche Auslegung mit einem „schwächeren” Christsein, und eine allegorische Auslegung verband man mit einem „tieferen”, intellektuelleren Christsein.
Wenn man die unerfüllten Prophetien wörtlich nahm, waren sie eine Bedrohung für die Ersatztheologie, weil sie von einer herrlichen Zukunft für Israel sprachen, von der kommenden Drangsal und dem 1,000-jährigen Friedensreich auf Erden.
Ein Problem bei den Allegorien ist das Fehlen von einheitlichen Regeln für die allegorische Interpretation von Schriftstellen. Eine Person kann sagen, eine bestimmte Passage bedeutet dies, die andere Person meint, sie bedeutet jenes. Und keiner kann den anderen widerlegen.
Im vierten Jahrhundert kam Augustinus (354-425 n.Chr.). Er war sehr stark beeinflusst davon, wie Origenes die Schrift allegorisch auslegte und von Ambrosius von Mailand, einem Kirchenführer, der der Auffassung war, dass das jüdische Volk hoffnungslos verkehrt sei und nicht wert, dass man einen Gedanken an sie verschwende. Augustinus verwendete die allegorische Methode um das System zu entwerfen, das wir heute Amillenialismus nennen.
Augustinus' Buch Der Gottesstaat beeinflusst noch heute die Kirche. Er schrieb auch das Traktat Gegen die Juden, in dem er die Auffassung vertrat, dass man das jüdische Volk erbarmungslos behandeln sollte, weil es wertlos sei und keine Rücksicht verdiene.
Augustinus' Zeitgenosse John Chrysostom (347-407 n.Ch.), ein berühmter Prediger und grosser Redner, hielt eine Reihe von Predigten gegen das jüdische Volk, er beschuldigte sie, ihre Nachkommenschaft zu ermorden und Teufel anzubeten. Er nannte ihre Synagogen Bordelle und Räuberhöhlen und behauptete, Gott hasse die Juden, weil sie Jesus ermordet hätten. Dies war seine Schlussfolgerung: Weil Gott die Juden hasste, waren die Christen verpflichtet, ebenfalls die Juden zu hassen. Willst du ein guter Christ sein? Dann tust du gut daran, die Juden zu hassen, denn Gott hasst sie. So argumentierte er. Leider haben Antisemitismus und Ersatztheologie die Kirche durchdrungen.
Zu diesem Zeitpunkt war das Christentum aber immer noch illegal im Römischen Reich. Die Kirche hatte keine Macht das durchzuführen, woran sie glaubte. Aber das sollte sich ändern.
Von James A. Showers