1) Wir erkennen,
dass die Entrückung nicht identisch ist mit dem Erscheinen bzw. der Wiederkunft
Christi. Es handelt sich hier um zwei unterschiedliche Ereignisse,
und es gibt eine ganze Reihe von Unterscheidungsmerkmalen. Die
Entrückung bezieht sich auf die Gemeinde, wenn die Toten in Christus
auferstehen und die Lebenden weggenommen werden, um dem Herrn in
der Luft zu begegnen (1.Kor 15,52; 1.Thess 4,16-17). Dieses Ereignis
weckt Hoffnung und eine freudige Erwartungshaltung (1.Thess
1,10), und diese wirken sich aus in einem siegreichen und geläuterten
Lebenswandel (1.Joh 3,2-3).
Andererseits geht es
bei der Wiederkunft Christi nicht in erster Linie um den Heiligen,
sondern um den Sünder. Wenn Christus zur Erde zurückkehrt, muss die
Schlacht von Harmagedon beendet sein (Offb 19,17-18), das Tier und der
falsche Prophet werden in den Feuersee geworfen (Offb 19,19-20),
Satan wird im Abgrund gebunden werden (Offb 20,1-3), die Nationen
der Erde werden zum Gericht versammelt (Mt 25,31-46) und Israel,
das eine schlimme Prüfung durchstehen musste, wird nun Christus, seinen
wahren Messias sehen und sein Vertrauen auf Ihn setzen (Sach 12,10; Röm
11,26-27).
2) Es gibt grosse
sprachliche Unterschiede bei der Beschreibung der beiden Ereignisse. Während
beide sich auf die Endzeit beziehen und beide das Wirken Christi
beschreiben, wurden die Gläubigen der Urgemeinde angewiesen, den
Erlöser zu erwarten (Phil 3,20; Tit 2,13): «… zum zweiten Mal wird er
nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil» (Hebr
9,28). In gleicher Weise sollten sie den Sohn Gottes vom Himmel erwarten
(1.Thess 1,10). Sie sollten wachsam und nüchtern sein (1.Thess 5,6)
und einander trösten mit der Hoffnung auf das Kommen Christi
(1.Thess 4,18). Diese häufigen Ermahnungen bewirkten eine Naherwartung
der Rückkehr Christi.
Paulus zählte sich
offenbar zum Kreis derer, die auf die Rückkehr Christi warteten
(1.Thess 4,15.17; 2.Thess 2,1). Timotheus wurde ermahnt, «dass du das
Gebot unbefleckt, untadelig haltest bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus»
(1.Tim 6,14). Jüdische Gläubige wurden an Folgendes erinnert: «Denn
nur noch eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht
lange ausbleiben» (Hebr 10,37). Bei einigen Christen war die
Erwartungshaltung derart stark ausgeprägt, dass sie ihre Arbeit
niedergelegt hatten und ermahnt werden mussten, wieder in ihre Berufe
zurückzukehren (2.Thess 3,10-12). Alle wurden zur Geduld ermahnt
(Jak 5,8). Schliesslich beendete Johannes das Buch der
Offenbarung, mit dem der Kanon der Bibel seinen Abschluss fand, mit dem
freudigen Ausruf: «Es spricht, der dies bezeugt: Ja, ich komme bald. –
Amen, ja, komm, Herr Jesus» (Offb 22,20). Solche Bibeltexte bilden
die Grundlage für die unter den ersten Christen weitverbreitete Hoffnung
auf die unmittelbar bevorstehende Rückkehr Christi.
Völlig anders ist der
Sprachgebrauch in Texten über die Wiederkunft, bei der Christus
zurückkehrt, um dem Unglauben und der Rebellion der Gottlosen ein Ende
zu setzen. An diesem Tag wird Er kommen «in Feuerflammen, Vergeltung zu
üben an denen, die Gott nicht kennen und die nicht gehorsam sind dem Evangelium
unseres Herrn Jesus» (2.Thess 1,8). Das fehlende Verständnis über
die Unterschiede zwischen Entrückung und Wiederkunft ist heute
eine der Hauptursachen für die in den verschiedenen Lagern der
Eschatologie herrschende Verwirrung.
3) Die
Naherwartung ist seit Jahrhunderten stets ein Glaubensgrundsatz evangeliumstreuer
Christen gewesen. Während theologische Begriffe wie «Trinität»,
«Theophanie (Gotteserscheinung) », «Naherwartung», «Unfehlbarkeit (der
Bibel)» und «vor dem Millennium» sich im Laufe der Jahrhunderte
allmählich entwickelten, war die Naherwartung, obwohl dieser
Begriff damals nicht verwendet wurde, die Erwartung der Gemeinde
zur Zeit der Apostel.
John F. Walvoord,
eine Autorität im Bereich der Eschatologie, veranschaulicht diesen
Sachverhalt: «Die zentrale Aussage der Lehre von der Entrückung vor
der Trübsal, nämlich die Lehre von der baldigen Rückkehr des Herrn, ist
ein zentrales Anliegen in der Lehre der Urgemeinde … (die) in
ständiger Erwartung auf das Kommen des Herrn zu Seiner Gemeinde lebte.»
Er zitiert aus der Didache,
die etwa 100 bis 120 n.Chr. geschrieben wurde. Dort ist folgende
Ermahnung zu lesen: «Seid wachsam um eures Lebens willen. Lasst eure Lampen
nicht erlöschen und lasst eure Lenden immer gegürtet sein; seid
bereit, denn ihr wisst nicht die Stunde, in der unser Herr kommt.»
Sogar Adolph Harnack,
einer der ersten liberalen Theologen, schrieb mit der Genauigkeit
eines Historikers Folgendes: «In der Geschichte der Christenheit gab es
drei Kräfte, die bei der Verkündigung des Evangeliums als Hilfsmittel
dienten. Diese haben die glühende Begeisterung von Menschen
geweckt, die durch das blosse Predigen des Evangeliums nicht zu
entschiedenen Anhängern geworden wären. Dazu (gehört) unter anderem ein
Glaube an die schnelle Rückkehr Christi und Seine herrliche
Herrschaft auf Erden. Zuerst kam der Glaube an die Nähe der Wiederkunft
Christi und die Errichtung Seiner Herrschaft der Herrlichkeit auf Erden,
ja, er erscheint so früh, dass sich hier die Frage stellt, ob er nicht
als wesentlicher Bestandteil der christlichen Religion angesehen werden
sollte.»
Jesse Forest Silver
machte in seinem hervorragenden Buch The Lord’s Return (Die
Rückkehr des Herrn) folgende Anmerkung über die apostolischen Väter: «Sie
erwarteten die Rückkehr des Herrn in ihrer Zeit. … Sie glaubten, dass
dieser Zeitpunkt unmittelbar bevorstand, weil ihr Herr sie
gelehrt hatte, in einer Haltung der Wachsamkeit zu leben. (Über die
Kirchenväter vor dem Konzil zu Nicäa erwähnt er Folgendes:) Aus der Überlieferung
kannten sie den Glauben der Apostel. Sie verkündigten die Lehre von der
Nähe der vor dem Millennium stattfindenden Rückkehr des Herrn.»
Von
Gerald B. Stanton