20.08.2012

Der Christ und das Gesetz

Dass man sich durch das Halten des Gesetzes die himmlische Seligkeit nicht verdienen kann, erkennen im Allgemeinen alle orthodoxen Christen an. Nur die können gerettet werden, die – mit aufrichtiger Reue über ihre Sünden – den Herrn Jesus Christus im Glauben annehmen. In diesem Punkt kann man auch kaum unterschiedlicher Meinung sein, zumindest nicht, wenn man hören will, was die Schrift sagt, denn darin heisst es immer wieder, dass aus Gesetzeswerken kein Fleisch vor Gott gerechtfertigt wird (vgl. Röm 3,20.28; Gal 2,16; 3,11, vgl. Röm 4,6; Eph 2,8.9).
Anders sieht es aus, wenn es um die Frage geht: Was hat ein Christ in seinem täglichen Leben mit dem Gesetz zu tun? Dazu gibt es zwei Auffassungen. Es gibt Christen, die der Meinung sind, das Gesetz sei uns gegeben, damit wir es aus Dankbarkeit für unsere Erlösung halten. Andere Christen meinen, das Gesetz gelte nicht für Christen; sie wollen nur aufgrund der Gnade leben. Weil unter aufrichtigen Christen sowohl die eine als auch die andere Sicht vertreten wird und man aufrichtig versucht, jeweils danach zu leben, ist es gut zu untersuchen, was das Wort Gottes über das Gesetz sagt. Wir wissen, dass das Gesetz dem Volk Israel am Sinai gegeben wurde (2.Mo 19 und 20), nachdem es aus der Sklaverei in Ägypten befreit war (2.Mo 12–14). Vor dieser Zeit gab es das Gesetz nicht. Das macht Paulus klar, wenn er sagt: «Denn bis zu dem Gesetz war Sünde in der Welt … Aber der Tod herrschte von Adam bis auf Mose» (Röm 5,13.14). Es gab also eine Zeit vor dem Gesetz, wo der Tod herrschte. Dass das Gesetz seit Mose gilt, ist klar, denn er hat das Gesetz gegeben (Joh 1,17). Dass das Gesetz angeblich rückwirkend ab Adam gelten soll, ist nicht durch die Schrift begründet.
Nun bleibt die Frage, warum das Gesetz überhaupt gegeben wurde. Genau diese Frage stellt Paulus in seinem Brief an die Galater: «Warum nun das Gesetz?» (Gal 3,19). Er gibt selbst gleich die Antwort: «Es wurde der Übertretungen wegen hinzugefügt.» Das bedeutet, dass die Sünden, die es immer schon gab, nun schwerer wiegen, weil jemand, der sündigt, ein ausdrückliches Gebot übertritt. Man kann sich nicht mehr auf Unwissenheit berufen, denn was Sünde ist, ist im Gesetz genau festgelegt.
Jeder weiss also, was er tun muss und was er nicht tun darf, damit er dadurch leben kann. Der Zweck des Gesetzes ist, kurz zusammengefasst: Der Mensch, der es hält, wird leben: «Ich bin der Herr» (3.Mo 18,5). Die Zufügung «Ich bin der Herr» betont, dass man, um mit dem lebendigen Gott, Verbindung haben zu können, das Gesetz halten muss. Ist schon einmal jemand durch das Halten des Gesetzes mit Gott in Verbindung gekommen? Hat je jemand durch die Erfüllung des Gesetzes das Leben bekommen? Das Zeugnis der Heiligen Schrift ist klar, dass keiner gerecht ist und dass niemand die Herrlichkeit Gottes erreicht, also nicht da hineinkommen kann (Röm 3,10.23).
Es hat nur einen Menschen gegeben, der das Leben verdient hat: Jesus Christus, der Gerechte. Er hat das Gesetz vollkommen e füllt. Aber was sehen wir bei Ihm? Er liess sich zum Fluch machen, der jeden trifft, der nicht in allem bleibt, «was im Buch des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun» (Gal 3,10–13). Wer einsieht, dass er das Gesetz nicht halten kann und sich im Glauben Christus als Bürgen für seine Sünden vor Gott anvertraut, für den ist Christus das Ende des Gesetzes (Röm 10,4).
Letzteres bedeutet, dass mit dem Kommen Christi auf die Erde das Ende des Gesetzes gekommen ist: Es ist nicht mehr das Mittel zur Rechtfertigung. Jetzt kann Gott einen Menschen nur rechtfertigen, wenn er im Glauben anerkennt, dass er Christus braucht. Für eine solche Person ist das Gesetz nicht länger das Mittel zur Rechtfertigung, denn das Gesetz hat seinen Zweck erfüllt, sobald man erkennt, dass es unmöglich ist, dadurch gerechtfertigt zu werden. Wer seine eigene Anstrengung aufgibt und auf das schaut, was Christus getan hat, und das glaubt, der unterwirft sich der Gerechtigkeit Gottes.
Das Gesetz: für Israel und die Völker? Wir haben nun gesehen, dass nicht das Gesetz, sondern nur der Glaube an Christus die Grundlage ist, auf der Gott einen Menschen rechtfertigt. Wer das versteht, stimmt der Schrift bei, die sagt: «… wissend, dass der Mensch nicht aus Gesetzeswerken gerechtfertigt wird, sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus» (Gal 2,16).
Man kann allerdings eine wichtige Frage in Bezug auf das Gesetz stellen: Wem ist eigentlich das Gesetz gegeben, für wen hat Gott es bestimmt? Mose hat das Gesetz am Berg Sinai dem Volk Israel gegeben. Dieses historische Ereignis ist die Antwort. Das Gesetz wurde Israel gegeben. Aber, könnte man fragen, gilt das, was für das Volk Gottes im Alten Testament galt, nicht heute für die, die jetzt das Volk Gottes bilden? Auf diese Frage finden wir eine klare Antwort in Apostelgeschichte 15. (Es ist gut, diesen Abschnitt zunächst zu lesen.)
In Apostelgeschichte 15 geht es um die Feststellung, dass niemand die Errettung anders erlangen kann als nur durch den Glauben an Jesus, und zwar ohne irgendeine zusätzliche Bedingung. In Vers 1 lesen wir, dass gläubige Juden, jüdische Christen, aus Judäa nach Antiochien kamen. Sie hatten von dem Wirken Gottes unter den Nationen gehört. Diese Juden, die noch nach den Forderungen des Gesetzes lebten, waren gekommen, um den Gläubigen aus den Nationen diese Forderungen aufzuerlegen. Sie erklärten nachdrücklich, dass die Gläubigen aus den Heiden nicht errettet werden könnten, wenn sie die Forderungen des Gesetzes nicht erfüllten.
Die Judenchristen waren Eiferer für das Gesetz. Für sie war das Christentum eine Fortsetzung des Judentums, nur dass jetzt der Glaube an den Messias Jesus dazugehörte. Für sie waren die Gemeinden unter den Nationen Gemeinden von Proselyten (zum Judentum bekehrte Heiden). Sie betrachteten diese Gläubigen aus den Nationen also als Leute, die zum Judentum übergetreten waren. Für sie gab es nichts neben dem Judentum. Aber sie irrten sich, denn das Christentum ist etwas völlig Neues, das nichts mit dem Judentum gemein hat.
Die falsche Lehre der jüdischen Christen brachte Verwirrung und viele Diskussionen. Paulus und Barnabas sahen ihre Arbeit unter den Völkern gefährdet, und sie protestierten energisch gegen diese falsche Lehre. Glücklicherweise hatten die Brüder in Antiochien so viel Vertrauen zu Paulus und Barnabas, dass sie anordneten, die beiden sollten zusammen mit einigen anderen Brüdern nach Jerusalem gehen, um dort den Aposteln und Ältesten diese Streitfrage vorzulegen (V 2).
Auch in Jerusalem gab es viel Wortwechsel (V 6.7). Nachdem Petrus, Barnabas und Paulus geredet hatten (V 7–12), ergriff Jakobus das Wort (V 13–20). Er war der Führer der Gemeinde in Jerusalem und hatte daher eine besondere Stellung. Seine Worte waren in dieser Diskussion über die Bedeutung des Gesetzes für die Nationen entscheidend. Sein grosser Eifer für das Gesetz war allen klar. Wenn er sagen würde, dass die Nationen das Gesetz nicht zu halten brauchten, würde das alle Eiferer für das Gesetz zum Schweigen bringen.
Jakobus bezieht sich zunächst auf den Bericht von Petrus, dass Gott zuerst «darauf gesehen hat, aus den Nationen ein Volk zu nehmen für seinen Namen» (V 14). Er bestätigt dieses Handeln Gottes mit einem Zitat des Propheten Amos. Dann kommt er zu dem Urteil, «dass man denen, die sich von den Nationen zu Gott bekehren, keine Schwierigkeiten mache» (V 19). Mit «keine Schwierigkeiten mache» meint er, dass ihnen das Joch des Gesetzes nicht auferlegt werden durfte. Die Nationen haben ihren eigenen Platz in den Wegen Gottes, sie sind frei von der Verpflichtung, Juden zu werden und das Gesetz zu halten.
Nach diesem Urteil von Jakobus wird das Ergebnis der Beratung in einem Brief an die Brüder aus den Nationen festgehalten (V 22–29). Die Schlussfolgerung aus der Beratung in Jerusalem ist klar: Das Gesetz gilt nicht für die Gläubigen aus den Nationen, sondern nur für Israel, das Volk, dem das Gesetz gegeben wurde. Gott hat das Gesetz nie den Nationen gegeben. Wir lesen von den «Nationen, die kein Gesetz haben» (Röm 2,14). Sie hatten kein Teil an all dem, was Gott Israel gegeben hatte (Eph 2,11.12). Das Gesetz und Israel gehören ausschliesslich zusammen (siehe Apg 7,53; Röm 2,17–20; 9,4; Hes 20,11). Eine Verbindung von Gesetz und Nationen ist in der Schrift nicht zu finden.
Kurz ein Hinweis: Es ist gut zu beachten, dass in der Apostelgeschichte eine Übergangssituation beschrieben ist. Gott ertrug es noch, dass Juden, die Christen geworden waren, sich weiterhin an das Gesetz hielten. Er hat das bis zum Jahr 70 geduldet, als die Römer Jerusalem eroberten und den Tempel zerstörten – damit endete der jüdische Gottesdienst. In der Gemeinde, die aus allen wahren Gläubigen besteht, ist nämlich nicht Jude noch Grieche (d. h. Nichtjuden), denn sie alle sind ohne Unterschied einer in Christus Jesus (Gal 3,28; Kol 3,11).
Wir kehren noch einmal zum Apostelkonzil in Jerusalem zurück, um zu hören, wie Petrus das in seinem Beitrag während der Besprechung hervorragend und für uns sehr lehrreich in Worte fasst (Apg 15,7–11). Er erinnert sie zunächst daran, wie Gott ihn auserwählt hat, dass die Nationen durch seinen Mund das Evangelium hören und glauben sollten. Dass sie tatsächlich zum Glauben gekommen waren, hatte Gott bewiesen, indem Er ihnen, so sagt Petrus, den Heiligen Geist gab, «wie auch uns», das sind die gläubigen Juden. Indem Gott seinen Geist auch bekehrten Menschen aus den Nationen gab, hat Er bestätigt, dass Er sie errettet hatte (Röm 8,9; Eph 1,13). Gott hatte ihren Glauben mit dem Heiligen Geist versiegelt, ohne Vorbedingung, also ausschliesslich auf der Grundlage des Glaubens.
Ist jemand nun zum Glauben gekommen, ist es ebenfalls falsch, zusätzliche Bedingungen zu stellen. Das macht Petrus dadurch klar, dass er auf die Funktion und die Auswirkung des Gesetzes hinweist. Er spricht über das Gesetz als «ein Joch …, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten» (V 10). Petrus bestätigt hier zwei Dinge, die wir bereits erwähnt haben:
Er bestätigt, dass das Gesetz Israel gegeben wurde. Denn er spricht über «unsere Väter», und das sind keine anderen als die Israeliten früherer Generationen, und über «wir», womit er die gläubigen Juden meint, an die er hier das Wort richtet, einschliesslich sich selbst.
Er bestätigt, dass kein Mensch das Gesetz halten kann, unabhängig davon, ob er gläubig oder ungläubig ist.
Für welchen Zeitraum gilt das Gesetz? Wir haben gesehen, dass das Gesetz nur Israel gegeben wurde, also nur einem Volk. Aber es gibt noch eine weitere Beschränkung, und das ist die Zeitepoche, für die das Gesetz bestimmend ist. Das lesen wir in Galater 3,23–25.
In diesem Abschnitt vergleicht Paulus zwei Zeitepochen miteinander. Die eine ist die Zeitepoche des Gesetzes, das heisst die Zeit, in der Gott mit dem Menschen aufgrund des Gesetzes handelt: Der Mensch muss also das Gesetz halten, das tun, was das Gesetz sagt. Das andere ist die Zeitepoche des Glaubens, das heisst die Zeit, in der Gott mit dem Menschen aufgrund des Glaubens handelt. Das Zeitalter «des Glaubens» ist im Wesentlichen die christliche Ära, die Zeit, die anbrach, nachdem Christus auf die Erde gekommen war, sein Werk am Kreuz vollbracht hatte und zum Vater zurückgekehrt war. Danach kam der Heilige Geist auf die Erde; das war der Anfang des Christentums.
In der Zeitepoche des Gesetzes galten strenge Gesetze, die Gott seinem irdischen Volk Israel auferlegte. Für den Juden war das ein Joch, er litt darunter, als sei er in Gewahrsam, also ein Gefangener (Gal 3,23). Es nahm ihm jede Handlungsfreiheit, sein Leben wurde dadurch geregelt. Unter Androhung der Todesstrafe musste er das Gesetz halten. Zugleich war das Gesetz als Gefängnis ein Schutz; es hinderte ihn daran, sich mit den Menschen um ihn herum zu vermischen (s. Eph 2,14). Doch die Zeitepoche des Gesetzes war begrenzt. Sie galt bis «auf den Glauben hin, der offenbart werden sollte» (V 23), und dieser Glaube wurde offenbart, als der Herr Jesus Christus kam. Damit brach eine neue Zeitepoche an.
Es ist gut, sich das Wort «Erzieher» genauer anzusehen, das Paulus in diesem Abschnitt für das Gesetz gebraucht (V 24a). Ein «Erzieher» ist jemand, der auf ein Kind achtet, das ihm anvertraut ist, auch auf sein körperliches Wohl. So ist die Funktion des Gesetzes. Das Gesetz ist ein Erzieher auf Christus hin; das bedeutet allerdings nicht, dass es den Weg zu Christus zeigt; vielmehr wird dadurch eine Periode in der Heilsgeschichte charakterisiert, in der Gott durch das Gesetz das Leben seines Volkes Israel regelte. Diese Zeitepoche endete mit dem Kommen Christi.
Während dieser Zeit erwies sich der Mensch als ein unverbesserlicher Sünder; darum musste Gott ihn unweigerlich richten. Um diesem Gericht zu entkommen, ist der Glaube an Christus und sein Sühnungswerk am Kreuz notwendig. Da der Herr Jesus sein Werk am Kreuz vollbracht hat, ist es möglich, dass Gott einen Menschen auf dem Grundsatz des Glaubens rechtfertigt (V 24b). Das ist nur durch den Glauben möglich, niemals durch das Gesetz, nicht durch irgendeine Bemühung vonseiten des Menschen. Gott handelt seit dem vollbrachten Werk Christi mit dem Menschen nicht mehr nach dem Grundsatz des Gesetzes, sondern nur noch nach dem Grundsatz des Glaubens.
Daher heisst es in Vers 25: «Da aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter einem Erzieher.» Noch einmal: mit «der Glaube» ist die Zeitepoche des Glaubens gemeint. Das Gesetz hatte seine Zeit. Den Galatern musste das gründlich bewusst werden, und in diesem Bewusstsein mussten sie die Lehren der jüdischen Irrlehrer abschütteln. Auch für uns als Christen ist es wichtig, das zu verstehen. Das Gesetz ist ein Gefängnis, das dem Menschen, der sich darunter stellt, jede Freiheit nimmt. Durch den Glauben an Christus wird ein Mensch aus diesem Gefängnis befreit.
Wenn jemand das Gesetz dann trotzdem wieder als Lebensregel nimmt, bedeutet das für ihn eine Rückkehr zum Zeitalter des Gesetzes und eine Rückkehr ins Gefängnis. Wer dahin zurückkehrt, beraubt sich der Freiheit, die er durch den Glauben an den Herrn Jesus bekommen hat, und er beraubt sich jedes Segens in Christus, der durch den Glauben an Ihn sein Teil ist (Gal 5,4a). Im zweiten Teil dieses Verses sagt Paulus den gläubigen Galatern, dass das die Folge davon ist, dass sie durch das Gesetz gerechtfertigt werden wollen. Das bedeutet zugleich, dass sie damit aus der Gnade fallen. Hier steht, dass der Gläubige, der das Gesetz halten will, das tut, um dadurch gerechtfertigt zu werden, obwohl er vielleicht aufrichtig das Gegenteil behaupten mag. Es geht jedoch nicht um die Motive des Gläubigen, das Gesetz zu halten, sondern darum, was das Gesetz ist und wozu Gott es gegeben hat.
Niemand konnte und kann also das Gesetz halten. Es war und ist daher unmöglich, durch das Gesetz gerechtfertigt zu werden. Jetzt sehen wir, dass ein Gläubiger, wenn er das Gesetz halten will, vor Gott wieder genau die gleiche Grundlage einnimmt, nämlich um dadurch gerechtfertigt zu werden. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass
jemand, der in irgendeiner Weise das Gesetz halten will, sich unter den Fluch stellt. Paulus hatte bereits im Brief an die Galater gesagt: «Denn so viele aus Gesetzeswerken sind, sind unter dem Fluch» (Gal 3,10). Wer das Gesetz Gottes ernstnimmt, wird dem zustimmen.
Der Christ lebt nicht mehr in Verbindung mit dem Gesetz, sondern in Verbindung mit Christus. Er ist nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade (Röm 6,14). Gnade bedeutet, nichts von sich zu erwarten und sich ganz Gott auszuliefern. Nur unter der Gnade ist Kraft, für Gott zu leben.
Wie ist es möglich, dass der Christ nicht mehr unter dem Gesetz ist? Zur Klarstellung: Paulus sagt nirgends, dass das Gesetz nicht gut sei. Im Gegenteil: «Also ist das Gesetz heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut» (Röm 7,12). Wie könnte etwas, was von Gott kommt, auch schlecht sein? Was ist denn nicht gut? Es ist nicht gut, das Gesetz zu benutzen, um dadurch gerechtfertigt zu werden. Wer das versucht, entdeckt seine Sündhaftigkeit und muss erkennen, dass er den Tod verdient.
Genau das sagt Paulus in Galater 2,19: «Ich bin … dem Gesetz gestorben.» Er anerkennt das Todesurteil über sich, das im Gesetz enthalten ist. Dadurch nimmt er das Gesetz ernst. Er anerkennt dessen Autorität. Das Gesetz hat ihm deutlich gemacht, was Sünde ist, denn durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde (Röm 3,20; 7,7). Er anerkennt auch den Lohn für die Sünde: den Tod (Röm 6,23); wer das Gesetz verwirft, stirbt ohne Barmherzigkeit (Hebr 10,28; s. auch Röm 4,15; Jak 2,10.11). Das Gesetz wird nicht umsonst «der Dienst des Todes» und «der Dienst der Verdammnis» genannt (2.Kor 3,7.9).
Indem Paulus dem gerechten Urteil über sich als Sünder zustimmt, sagt er zugleich, dass das Gesetz von diesem Augenblick an nichts mehr über ihn zu sagen hat. Denn welche Wirkung kann das Gesetz auf jemanden haben, der gestorben ist? Kann eine solche Person noch mit «du sollst» und «du sollst nicht» angesprochen werden?
In Galater 2,19.20 erklärt Paulus, wie er dem Gesetz gestorben ist und wie es nun mit ihm steht: «Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe; ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.» Er sagt damit: Was meinen alten Menschen betrifft, mein altes Ich, so bin ich mit Christus gekreuzigt; aber ich habe auch ein neues Ich, das ist mein neues Leben, das durch den Glauben lebt. Daher sagt er: «[Das] lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.» Wenn man auf den Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, sieht, ist immer Kraft da, um für Gott zu leben.
Dass der Tod vom Gesetz befreit, wird auch in Römer 7,1–6 klar dargelegt. Dort lautet das Argument, dass doch jedem klar ist, dass ein Gesetz nur über einen Menschen herrscht, solange er lebt. Es macht keinen Sinn, jemandem, der zum Beispiel gegen die Verkehrsordnung verstossen hat, aber dabei selbst ums Leben gekommen ist, eine Geldstrafe aufzuerlegen. Eine Strafe bekommt jemand, der für eine begangene Übertretung haftbar gemacht werden und dafür auch büssen kann. Bei einem Toten ist das unmöglich. In der Rechtsprechung erlischt jede Anklage gegen eine Person, wenn sie gestorben ist.
Paulus illustriert das in Römer 7 am Beispiel einer Ehe (V 1–3). Er sagt, dass nach dem Gesetz eine eheliche Verbindung Gültigkeit hat, solange beide Ehepartner leben. Diese Verbindung wird nur gelöst, wenn einer der beiden Ehepartner stirbt. Erst dann ist die Frau frei von dem Gesetz, das sie an ihren Mann gebunden hat; erst dann darf sie einen anderen heiraten. Sie ist eine Ehebrecherin, wenn sie die Frau eines anderen Mannes wird, während ihr erster Mann noch lebt.
Wenn Paulus dieses Beispiel in den Versen 4–6 auf die Verbindung zwischen einem Gläubigen und dem Gesetz anwendet, sagt er das folgendermassen: Nach dem Gesetz musste der Sünder getötet werden. Das ist mit dem Gläubigen geschehen. Er ist durch den Leib des Christus für das Gesetz getötet (V 4a). Das heisst, als Christus starb, starb auch der Gläubige. Aber Christus ist aus den Toten auferstanden. Der Gläubige ist daher nicht mehr mit dem Gesetz verbunden, sondern mit dem auferstandenen Christus, der auch nichts mehr mit dem Gesetz zu tun hat. Das Gesetz ist ja in vollem Umfang an Ihm vollstreckt worden. Der Gläubige ist daher nicht mehr mit dem Gesetz verbunden, sondern mit dem auferstandenen Christus, und dadurch kann er Frucht für Gott bringen. Diese Frucht b wirkt der Geist Gottes in dem Gläubigen (Gal 5,22), in dem Er Wohnung genommen hat, nachdem dieser das Evangelium der Errettung angenommen hat (Eph 1,13).
Wenn der Geist in dem Gläubigen wohnt, bedeutet dies, dass er sich durch den Geist leiten lassen und durch den Geist wandeln muss (Gal 5,16). Wer sich durch den Geist leiten lässt und durch den Geist wandelt, ist von der Beschäftigung mit sich selbst, mit dem Gesetz und mit dem Fleisch befreit. «Wenn ihr aber durch den Geist geleitet werdet, so seid ihr nicht unter Gesetz» (Gal 5,18). Der Heilige Geist kam auf die Erde, nicht um dem Gläubigen die Kraft zu geben, das Gesetz zu erfüllen, nicht um ihn mit dem Gesetz zu beschäftigen und dadurch mit sich selbst, sondern um ihm alles über Christus mitzuteilen und Ihn zu verherrlichen (Joh 16,13–15).
Übrigens bedeutet das, dass derjenige, der sich durch den Heiligen Geist leiten lässt, zugleich alle heiligen Forderungen des Gesetzes erfüllt (Röm 8,4). Der Geist wird nie jemanden dazu bringen, gegen irgendein Gebot des Gesetzes zu verstossen. Das zu tun, was das Gesetz sagt, ist gleichsam die automatische Folge, wenn man auf Christus ausgerichtet ist. Worum es aber geht, ist, dass das Gesetz den Gläubigen mit sich selbst beschäftigt, während der Geist bewirkt, dass der Gläubige sich mit Christus beschäftigt.
Die richtige Anwendung des Gesetzes und Christus als Lebensregel. Wir werden über die richtige Anwendung des Gesetzes nicht im Ungewissen gelassen. Inspiriert durch den Geist Gottes, erläutert Paulus in 1. Timotheus 1,8–11 den richtigen Gebrauch. Diese Verse sind für den Christen von ausserordentlicher Bedeutung. Wir bekommen dort Belehrungen über einen «gesetzmässigen» Gebrauch des Gesetzes, das heisst einen Gebrauch des Gesetzes, der im Einklang mit seiner Bestimmung ist. Wenn wir diese Belehrungen verstehen, werden wir davor bewahrt, das Gesetz falsch anzuwenden, und wir werden mit dem Gesetz nicht auf eine Weise umgehen, für die das Gesetz nicht bestimmt ist.
Als Erstes drückt Paulus seinen Willen aus, dass jemand, der das Gesetz gebraucht, «weiss, dass für einen Gerechten das Gesetz nicht bestimmt ist». Ein Gerechter ist jemand, den Gott aufgrund des Glaubens an Christus für gerecht erklärt hat (Röm 4,5; 5,1.9). Auf eine solche Person kann das Gesetz Gottes nicht mehr angewandt werden, weil Christus ihn von allen seinen Sünden befreit hat, weil Er selbst das Gericht darüber getragen hat. Christus hat der Forderung des Gesetzes völlig entsprochen, als Er in den Tod ging. Wer an Ihn glaubt, ist mit Ihm in seinem Tod gestorben.
Jeder Gläubige ist ein «Gerechter» und hat daher nichts mehr mit dem Gesetz zu tun als Mittel, durch das seine Beziehung zu Gott geregelt wird. Aber das Gesetz ist von Gott und deshalb nützlich, wenn es richtig angewendet wird, und zwar auf das Gewissen des Sünders. Der Sünder kann durch das Gesetz überzeugt werden, dass er ein Sünder ist. Paulus nennt einige Kategorien von Sündern und schliesst mit einer alles umfassenden Kategorie («und wenn etwas anderes … ist»; V 10). Aus der Liste der Sünder werden sowohl die innere Verdorbenheit des Menschen und seine Entfremdung von Gott deutlich wie auch die Handlungen, die daraus hervorkommen. Alle diese Taten sind direkte Übertretungen bestimmter Vorschriften des Gesetzes. Die in diesem Abschnitt genannten Sünden werden jedoch nicht nur durch das Gesetz verurteilt. Sie stehen auch im Gegensatz zu der gesunden Lehre des Neuen Testaments. Paulus beschliesst die Liste daher nicht mit: «… wenn etwas anderes dem Gesetz entgegen ist», sondern mit: «… wenn etwas anderes der gesunden Lehre entgegen ist.» Es ist sehr wichtig, das zu sehen. Die gesunde Lehre ist ein viel höherer Massstab als das Gesetz, um festzustellen, was Sünde ist. Die gesunde Lehre entspricht vollkommen der Heiligkeit Gottes. Diese Lehre ist rein und sauber und völlig in Übereinstimmung mit «dem Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes». Gott ist der selige Gott, der alle Seligkeit in sich selbst findet, der aber auch Menschen durch das Evangelium an seiner Seligkeit teilhaben lassen will.
Dieses Evangelium übertrifft das Gesetz bei weitem. Im Evangelium spricht Gott nicht durch Donner und Blitz vom Sinai herab, sondern in der Fülle seiner Gnade und Wahrheit in Christus, um verlorenen Sündern Barmherzigkeit zu erweisen. Am Sinai war die Fülle Gottes nicht sichtbar. Dort machte Er sich in seinen Forderungen bekannt. Die Herrlichkeit Gottes dagegen ist die Menge all seiner Vollkommenheiten, die im Leben des Herrn Jesus auf der Erde und vor allem am Kreuz sichtbar geworden sind. In «dem Evangelium der Herrlichkeit» ist die Herrlichkeit Gottes in Christus offenbart (2.Kor 4,4). Dafür sind die Augen des Gläubigen geöffnet. Die grossartige Wirkung dieses Evangeliums ist, dass der Gläubige, der sich mit der Herrlichkeit Christi beschäftigt, immer mehr in Übereinstimmung mit Ihm gebracht wird (2.Kor 3,18).
Das führt zu Christus als Lebensregel, und das bedeutet, dass die Lebensregel nicht eine Liste von Geboten (und noch weniger von Verboten) ist, sondern eine Person. Wie der Christ zur Ehre Gottes leben kann, lernt er nicht aus dem Gesetz, sondern dadurch, dass er auf Christus schaut. Der Herr Jesus hat gezeigt, wie man Gott anbeten und Ihm dienen sollte. Hat der Herr Jesus denn nicht das Gesetz gehalten? Natürlich hat Er das, und zwar in vollkommener Weise. Der Christ ist jedoch nicht dadurch gerettet, dass der Mensch Jesus Christus das Gesetz erfüllt hat. Er hat das Leben verdient, weil Er das Gesetz vollkommen gehalten hat. Aber wenn Er, ohne zu sterben, in den Himmel zurückgekehrt wäre, wären wir für ewig verloren, verurteilt durch dasselbe Gesetz, das Er vollkommen gehalten hat.
Darum ist es so beeindruckend zu sehen, dass Christus weit mehr getan hat, als das Gesetz verlangte. Er spricht von einem Gebot, das Er vom Vater empfangen hatte, sein Leben zu lassen, um es wiederzunehmen (Joh 10,18). Wo verlangte das Gesetz das von Ihm? Nirgends, denn darüber steht nichts im Gesetz. Das Ablegen seines Lebens hat uns nicht mit seinem Gehorsam gegenüber dem Gesetz und mit Gott als Forderndem bekanntgemacht, sondern mit seiner Liebe und mit Gott als Geber (vgl. Joh 4,10).
Was kann man nun von einem Christen erwarten, der den Herrn Jesus kennt und Ihn als sein Leben empfangen hat (1.Joh 5,11.12)? Dass er sein Leben für die Brüder hingibt (1.Joh 3,16). Wo verlangt das Gesetz das vom Christen? Nirgends, denn darüber steht nichts im Gesetz. Ebenso lernen wir von Ihm – und nicht vom Gesetz –, wie wir einander vergeben müssen: «… wie auch der Christus euch vergeben hat, so auch ihr» (Kol 3,13). Es geht um die Dinge, die der Christ von Christus gehört hat und die Christus ihn gelehrt hat (Eph 4,20.21).
Wenn ein Christ die Empfindungen und die Gesinnung Christi hat, wird er auch wie Christus handeln. Die Gesinnung des Gesetzes führt dazu, dass man einander beisst und frisst (Gal 5,15), die Gesinnung Christi führt dazu, dass man seine eigenen Interessen vor denen anderer zurückstellt: «[Denn] diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war, der, da er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem er in Gleichheit der Menschen geworden ist, und, in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem er gehorsam wurde bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz» (Phil 2,5–8). Dieser Heiland ist das Vorbild, die Lebensregel für uns als Christen!
Von Ger de Koning