17.04.2011

Der Stein und die Herrlichkeit

«Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. … Bitte, Herr, rette doch! Bitte, Herr, gib doch Gelingen! Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn!» (Ps 118,22.25-26).
Als er seinen ersten Brief schrieb, zitierte Petrus Jesaja 28,16, eine Prophezeiung über den zukünftigen Messias: «Denn es ist in der Schrift enthalten: ‹Siehe, ich lege in Zion einen Eckstein, einen auserwählten, kostbaren; und wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden›» (1.Petr 2,6). Dass Petrus einen alttestamentlichen Propheten zitierte, war nicht besonders ungewöhnlich. Viele andere neutestamentliche Autoren zitierten oft das Alte Testament, so wie Jesus es auch selbst in Seinen Reden tat. Doch alles in allem passten die Wahrheiten aus Jesaja 28 nicht zu den Umständen im Leben des Petrus. Hier war ein Mann, dem in wenigen Wochen die Gefangenschaft bevorstand. Er sollte sehr stark für seinen Herrn leiden und die irdischen Gefilde erst nach den extremen Qualen einer Kreuzigung verlassen. Petrus hatte keinen Reichtum erlangt. Er hatte keinerlei Bildungsgrade. Und Er hatte auch kein irdisches Erbe für seine Familie hinterlassen – falls er überhaupt eine Familie zurückliess. Vielleicht hatten seine Angehören auch schon den Märtyrertod für die Nachfolge Jesu erlitten.
Trotzdem schrieb Petrus zuversichtlich: «… wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.» Die Aussage des Petrus war eindeutig. Er betonte seinen Standpunkt auf die im Griechischen stärkstmögliche Art: «Wer an ihn glaubt, wird in keinster Weise zuschanden werden.» Petrus wusste, was ihn erwartete. Jesus hatte ihm nämlich einst offenbart, durch welche Todesart er den Herrn verherrlichen würde (Joh 21,18-19). Als sein prophezeiter Tod näher kam, wich Petrus weder zurück noch floh er – er blieb standhaft. Die einfache, aber zwingende Frage bleibt jedoch: Warum? Warum diese Zuversicht? Warum dieses starke Bekenntnis angesichts der bevorstehenden Qualen? Warum sehen wir hier die schlimmsten Umstände eines Lebens, während Petrus doch erklären kann, dass, wer an Ihn glaubt, in keinster Weise zuschanden bzw. von Jesus enttäuscht werden wird? Viele Menschen waren schon sehr enttäuscht von Jesus. Und viele Menschen sind es immer noch. Das geht von Judas bis in die heutige Zeit. Um ehrlich zu sein: Die meisten von uns haben es schon irgendwann erfahren – oder werden es in der Zukunft erfahren: Bis zu einem gewissen Grad sind wir enttäuscht von Jesus, besonders, wenn Er uns in die Finsternis führt und wir es nicht verstehen.
Eine bedeutsame Grundlage für die Zuversicht des Petrus finden wir im nächsten Vers von 1. Petrus, wo er Psalm 118,22 zitierte: «Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden» (1.Petr 2,7). Dies ist ein Vers, den Jesus etwa 30 Jahre zuvor in einer persönlichen Lektion für Petrus gebraucht hatte – eine Lektion, die Petrus den Rest seines Lebens begleitete. Es ist eine Lektion, die Jesus noch immer alle lehrt, die Ihm nachfolgen – und alle, die Ihn ablehnen.
Um zu verstehen, warum Petrus diesen Vers als so wichtig erachtete, müssen wir sein Leben betrachten, so, wie es in den Evangelien aufgezeichnet ist. Das ganze Geschehen müssen wir so gut wir heute können mit seinen Augen sehen und mit seinen Ohren hören.
Falls es jemals eine Zeit gab, von Jesus nicht enttäuscht zu sein, dann war es bei Seinem «triumphalen Einzug» an Palmsonntag – wie es viele Leute nennen. Allerdings ist «triumphaler Einzug» eine falsche Bezeichnung – und noch mehr eine missverstandene. «Die Vorschau auf den endgültigen triumphalen Einzug Jesu»  oder «Der prophezeite Einzug des Messias in Niedrigkeit» beschreiben das Ereignis genauer. Aber nehmen Sie einmal an, Sie hätten zu den verwirrten Jüngern Jesu gehört, die immer noch über ihren Anspruch stritten, wer unter ihnen der grösste sei (Lk 9,46; 22,24). Dann wäre dies «Ihr Tag» gewesen, besonders weil Sie dann gemeint hätten, «dass das Reich Gottes sogleich erscheinen sollte» (Lk 19,11). Dieser Tag wäre der Moment gewesen, auf den Sie gewartet und nach dem Sie sich gesehnt hatten. Sie wollten unbedingt sehen, wie Israel seinen Messias willkommen heisst. Jesus selbst hatte Sie gelehrt, dass Sie Ihren verheissenen Herrschaftsthron erhalten würden, wenn Er auf dem Thron Seiner Herrlichkeit sitzen würde (Mt 19,28). Die Volksmassen in Jerusalem feierten die Ankunft des Messias. Jahrhundertealte biblische Prophezeiungen entfalteten sich vor Ihren eigenen Augen. Die Menschenscharen reagierten wie sie sollten – und in Übereinstimmung mit der Schrift. Besonders Petrus, Johannes und Jakobus konnten ihren Überschwang kaum zurückhalten, da sie einige Monate zuvor bei der Verklärung eine Vorschau auf das kommende Reich in Kraft und Herrlichkeit erhalten hatten (Mt 17,1-8). Sie erkannten sogleich, was die Massen taten, aber sie konnten in diesem Moment nicht alles verraten, was sie wussten. Die Volksmassen hatten nicht wie sie die Herrlichkeit Jesu gesehen. Während Jesus still durch die Menschenmassen ritt, betrachteten sie im gegenwärtigen Augenblick nur Sein Menschsein und Seine Niedrigkeit. Doch diese drei aus dem inneren Jüngerkreis verstanden, dass Jesus sich jetzt noch zurückhielt und Seine Herrlichkeit nicht zeigte. Sie wussten nicht genau, wann Er sie der ganzen Welt zeigen würde, aber sie wussten, dass Er es tun würde – vielleicht sogar an diesem Tag.
Jesus ritt auf einem Eselsfohlen nach Jerusalem, das wahrscheinlich von dessen Mutter geführt wurde. Er kam und bot Frieden an. Er kam und bot sich selbst an. Matthäus betont die biblische Bedeutung von Jesu Einzug, indem er Sacharja 9,9 zitiert: «Dies aber ist geschehen, damit erfüllt würde, was durch den Propheten geredet ist, der spricht: ‹Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig und auf einer Eselin reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen des Lasttiers›» (Mt 21,4-5). Nur wenige Tage vor dem Passahmahl kam Jesus in demütiger Haltung in die Stadt Davids. Manch andrer hätte einen königlicheren Einzug Jesu auf einem weissen Pferd vorgezogen, ein Hinweis auf Sieg und Erfolg. Ein weisses Pferd wartet zwar auf Jesus, aber dieses ist für Seinen wirklich triumphalen Wiedereintritt in Seine Welt und Seine Stadt vorbehalten (Offb 19,11-16).
Dieser Tag war damals allerdings noch nicht gekommen. Vielmehr erfüllte der damalige Einzug in Jerusalem die erforderlichen Prophezeiungen für die Ereignisse der Karwoche und stellte die Weichen. Johannes schrieb, dass er und die anderen Jünger dies (die Bedeutung der Ereignisse jenes Tages) zuerst nicht verstanden, «jedoch als Jesus verherrlicht war, da erinnerten sie sich daran, dass dies von ihm geschrieben war und sie ihm dies getan hatten» (Joh 12,16). Die Erinnerungen der Jünger waren von höchster Bedeutung für Jesus, denn schliesslich sind Erinnerungen der fruchtbare Grund, aus dem oft die grössten Lektionen hervorgehen. Bevor es während dieser Passahwoche überhaupt irgendwelche Aussprachen gab, lehrte Jesus Seine Jünger kontinuierlich Lektionen, die sie erst nach den welterschütternden Ereignissen der nächsten wenigen Tage begreifen würden.
Filme und andere Darstellungen, die Jesu Einzug in Jerusalem schildern, erfassen normalerweise nicht den tumultuösen Charakter dieses Ereignisses. Bevor es Computeranimation gab, hatte man einfach nicht die notwendigen Mittel, um den Aufruhr in angemessener Form darzustellen, der mit Jesu Ritt nach Jerusalem einherging. Gemäss einer sehr zurückhaltenden Schätzung waren über 2 Millionen Juden rund um Jerusalem versammelt, um die Passahwoche zu feiern. Jahrhunderte früher, als Israel wegen seines frevelhaften Bundes-Ungehorsams ins Exil musste, versprach Gott denen, die Er gerade gerichtet hatte, eine zukünftige Rückkehr ins verheissene Land. Als Gott die herrliche künftige Wiederbevölkerung des Landes, die Er selbst bewirken würde, illustrieren wollte, gebrauchte Er ein Bild, das das Volk kannte: «So spricht der Herr, Herr: Auch noch um dieses werde ich mich vom Haus Israel erbitten lassen, dass ich es ihnen tue: Ich werde sie an Menschen vermehren wie eine Herde. Wie eine geheiligte Herde, wie die Herde Jerusalems an seinen Festen, so werden die verödeten Städte voller Menschenherden sein. Und sie werden wissen, dass ich der Herr bin» (Hes 36,37-38). Offensichtlich war die Zahl der «Herde Jerusalems an seinen Festen» gewaltig.
Die Schreiber der Evangelien stellen fest, dass eine Volksmenge Jesus willkommen hiess (Mt 21,8-9; Lk 19,37). Johannes beschreibt es als «eine grosse Volksmenge» (Joh 12,12). Bei zwei Millionen Menschen geht eine Volksmenge in die Hunderte  oder Tausende – nicht in die Dutzende oder wenige Hundert, wie es Filme oft zeigen. Die Emotionen kochten hoch. Die Energie so vieler versammelter Menschen in festlicher Stimmung war beeindruckend. Doch nicht nur Jesus der Mensch kam nach Jerusalem, Jesus der Messias zog in die Stadt des Königs ein.
Obwohl sie den zwingend notwendigen erlösenden Charakter des Werkes des Messias missverstanden, kündigten die Menschenmassen Jesus mit einem Lobpreis an, der nur für den verheissenen Kommenden Israels gedacht war. Viele im Volk wussten, dass Israels König Einzug gehalten hatte; ihr ausgerufener Lobpreis zeugte von ihrer Erwartung. Die Massen riefen Psalm 118,25-26: «Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!» (Mt 21,9), verknüpft mit anderer messianischer Lobpreisung und Erwartung: «Hosanna!», das heisst: «Rette jetzt!», wurde sowohl zum Lobpreis als auch zum Gebet. «Gepriesen sei das kommende Reich unseres Vaters David!» (Mk 11,10). Und: «Gepriesen sei der König, der da kommt im Namen des Herrn!» in Verbindung mit «Friede im Himmel und Herrlichkeit in der Höhe!» (Lk 19,38). Das war der lobpreiserfüllten Anbetung der Engel bei der Geburt Jesu sehr ähnlich (Lk 2,13-14). Herrlichkeit, Begeisterung, Freude, Lobpreis, unbegrenzte Erwartung – das alles hing mit dem Kommen des Messias-Königs zusammen, der nun in Seine heilige Stadt einzog.
Allerdings jubelte nicht jeder bei der Ankunft Jesu. Die Pharisäer waren ebenfalls Zeuge dieser Ereignisse. Sie tadelten einander für ihre gescheiterten Versuche, Jesus und die Volksmassen in Schranken zu halten. «Ihr seht, dass ihr gar nichts ausrichtet; siehe, die Welt ist ihm nachgegangen» (Joh 12,19). (Dies gibt uns aus ihrer Perspektive einen weiteren Hinweis auf den enormen Umfang der Volksmenge.) Etwa drei Monate bevor Jesus zum Passahfest eintraf, war Er nach Jerusalem unterwegs (Lk 13,22). Eine Gruppe von Pharisäern war auf Jesus zugekommen, um Ihn vor Herodes zu warnen, der Ihn töten wollte (Lk 13,31). Sie waren jedoch keine wahren Freunde Jesu. Ihre Motive waren weit davon entfernt, ehrbar zu sein. Deshalb dankte Jesus ihnen nicht und ergriff auch nicht angsterfüllt die Flucht, sondern Er erklärte ihnen (der Gruppe der Pharisäer; Er machte zu diesem Zeitpunkt keine öffentliche Ankündigung), dass Herodes Gottes Plan oder Zeitpunkt nicht vereiteln würde (Lk 13,31-33). Und dann gab Jesus ihnen eine Vorschau dessen, was sie zu erwarten hatten: «Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie eine Henne ihre Brut unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus wird euch überlassen. Ich sage euch aber: Ihr werdet mich nicht sehen, bis die Zeit kommt, dass ihr sprecht: ‹Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!›» (Lk 13,34-35).
In Lukas 13,35 zitierte Jesus Psalm 118,26. Er prophezeite den Pharisäern, was sie erwarten würde, wenn Er nach Jerusalem käme. Und an dem Tag, als Er erschien, riefen die Volksmassen genau das aus, was Er angekündigt hatte. Sie sagten sogar genau die Worte, die Er benutzt hatte. Doch die Pharisäer gerieten deshalb nicht ins Staunen und taten nicht Busse; vielmehr intensivierte es ihren Hass auf ihren Gegner.
Neben dem, was wir bereits betrachtet haben, sehen wir zwei bedeutsame Wahrheiten. Erstens begann mit Jesu Einzug in Jerusalem der Countdown für Golgatha. Zweitens – und das ist von höchster Wichtigkeit – legte Sein Einzug das Fundament für viele Seiner letzten Reden während der wenigen Tage vor Seinem Tod. Obwohl nur Er allein es zu diesem Zeitpunkt verstand, hatte Jesus bereits den ersten Teil Seiner göttlichen Lektion präsentiert: dem Petrus und Johannes und den anderen Jüngern; der ablehnenden religiösen Obrigkeit; Israels vereinter Volksmenge. An diesem Tag begann Jesus Seine Lektion. Denn Er hatte sie alle noch viel mehr über sich selbst und Sein Werk zu lehren.
Der zweite Abschnitt der Lektion erfolgte zwei Tage später: Jesus hatte gerade Seinen Tempel gereinigt und im frisch gereinigten Gebäude zu lehren begonnen (Mt 21,23ff.). Während Jesus Seine Anhänger lehrte, unterbrachen Ihn die Hohenpriester und Ältesten. Sie verlangten Auskunft darüber, in wessen Autorität Er dies tat. Vermutlich meinten sie sowohl die Reinigung des Tempels als auch Sein Recht zu lehren, besonders wenn dies im Hause Gottes geschah. Genau genommen musste Jesus keine Erklärung geben. Er hatte keine Sünde begangen, nicht einmal nach den heiligen Massstäben des Mosaischen Gesetzes. Jesus hatte den Tempel in keinster Weise entehrt oder entweiht. Er hatte das abgesonderte Allerheiligste nicht betreten. Stattdessen hatte Jesus die Händler vertrieben, die Gottes Bethaus entehrt und in einen kommerziellen Basar umgewandelt hatten (Mt 21,12-13; Mk 11,15-18). Wenn eine Schriftstelle existiert hätte, die solch eine Reinigung verbot, hätten Jesu Gegner sie sogleich an Ort und Stelle zitiert, aber sie vermochten es nicht. Folglich konnten Seine Kritiker Jesus nur fragen, in wessen Autorität er gehandelt hatte.
In guter jüdischer Manier reagierte Jesus auf die Frage mit einer Gegenfrage. Er sagte, Er würde die Quelle Seiner Autorität vollumfänglich offenbaren, wenn sie (die religiösen Führer) eine einfache Frage beantworten könnten. Sie lautete: «Die Taufe des Johannes, woher war sie, vom Himmel oder von Menschen?» (Mt 21,25). Die Beschreibung des Markus endet mit einer einfachen, aber klaren Aufforderung: «Antwortet mir» (Mk 11,30). Der entscheidende Streitpunkt war die Quelle der Autorität, die sowohl Johannes den Täufer als auch Jesus betraf. Und die Hohenpriester und Ältesten erkannten sofort das Dilemma, in das Jesus sie gebracht hatte. Hätten sie geantwortet, Johannes sei von Gott, dann hätte Jesus erwidern können: «Warum habt ihr ihm denn nicht geglaubt?» Johannes der Täufer hatte nämlich im Hinblick auf Jesus gesagt: «Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!» (Joh 1,29). Er hatte seine Anhänger auch über den Einen belehrt, der nach ihm kommen und grösser sein würde als er. Und obwohl Jesus nach Johannes geboren wurde, bezeugte der Wegbereiter: «Er war vor mir» (Joh 1,30). Wenn die religiösen Führer gesagt hätten, Johannes sei von Gott, dann musste folglich auch Jesus von Gott sein, weil Johannes Ihn so angekündigt hatte. Hätten sie aber argumentiert, die Autorität des Johannes sei nur eine menschliche gewesen, dann, so fürchteten sie, «wird das ganze Volk uns (die Pharisäer) steinigen, denn es ist überzeugt, dass Johannes ein Prophet war» (Lk 20,6).
Durch diese kinderleichte Frage Jesu in die Ecke gedrängt, lautete die ausweichende Antwort der Führer: «Wir wissen es nicht» (im Griechischen ist das normalerweise übersetzt mit «etwas intellektuell zu wissen; zu verstehen»). Was der blinde Mann in Johannes 9 erwiderte: «Hierbei ist es doch erstaunlich, dass ihr nicht wisst …», könnte auch als Reaktion auf die Verhärtung der Hohenpriester und Ältesten gesagt werden. Diejenigen, die so fromm waren und jahrzehntelang sorgfältig in sämtlichen Nuancen des Gesetzes geschult worden waren, konnten den öffentlichen Dienst von Johannes nicht beurteilen. Sie konnten den Inhalt seiner Botschaft, den Einfluss, den er auf das Volk Israel hatte, oder sein Zeugnis auf ihre Jahre zuvor gestellte Frage, wer er sei, nicht verstehen. Sie vermochten es nicht, eine Schlussfolgerung zu ziehen, ob er nun ein von Gott gesandter Prophet war oder nicht. Vor ihnen lag eine «Entweder-oder»-Aussage – aber sie hatten keine «Entweder-oder»-Antwort.
Jesus gab den versammelten religiösen Leitern keine zusätzliche Belehrung. Zu diesem Zeitpunkt war es sinnlos, darin fortzufahren. Wenn sie schon nicht richtig über den Wegbereiter urteilen konnten, warum sollten sie sich dann damit beschäftigen, Den zu befragen, von dem der Prophet zeugte? Verurteilt durch ihr eigenes Schweigen, standen die Hohenpriester und Ältesten vor Jesus.
Die Weigerung der Hohenpriester und Ältesten, Ihm eine Antwort zu geben, nutzte Jesus als Übergang zum Gleichnis von den zwei Söhnen. Damit illustrierte Er, dass die religiösen Führer nach der Predigt von Johannes dem Täufer überhaupt nicht Busse tun wollten (Mt 21,28-32). Das darauffolgende Gleichnis von den Weingärtnern (Mt 21,33-44) schilderte die wiederholte Verwerfung der von Gott Gesandten, gipfelnd in die Verwerfung und Ermordung des Sohnes. Zusammengenommen verurteilten die beiden Gleichnisse die Taten der religiösen Führer Israels: sie hatten die beiden von Gott selbst erwählten Boten nicht angenommen. Den einen Diener hatten die Führer bereits verworfen, den anderen verwarfen sie gerade – den von Gott dem Vater gesandten Sohn.
Das zweite Gleichnis beendete Jesus mit einem Zitat aus Psalm 118,22. Derselbe Psalm war auch die Grundlage für die wiederholten Hosanna-Rufe der Volksmenge wenige Tage zuvor. «Jesus spricht zu ihnen: Habt ihr noch nie in den Schriften gelesen: ‹Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen, und es ist wunderbar in unseren Augen›?» (Mt 21,42). Dies dürften Petrus und Johannes gehört haben.
Die Hohenpriester und Ältesten begriffen, dass Jesus in beiden Gleichnissen von ihnen sprach. Ihre Reaktion auf Seine Unterweisung war, dass sie Ihn umbringen wollten (Mt 21,45-46). Sie hätten Ihn wohl an Ort und Stelle getötet – so, wie sie Stephanus Wochen später ermorden würden –, wenn es ihnen denn möglich gewesen wäre. Aber sie konnten es nicht. Jemand viel Grösserer als sie steuerte die Ereignisse dieser göttlich vorhergesagten Woche.
Jesus erwähnte in Seinen Gleichnissen keine Namen. Warum reagierten dann die Hohenpriester und Pharisäer so heftig? Einfach gesagt: Jesu Widersacher reagierten im Zorn, weil sie genau verstanden, was Er behauptete: Er selbst war der von Gott gelegte Eckstein. Dies betraf Jesu Ursprung und Auftrag und beantwortete ihre ursprüngliche Frage: «In welchem Recht tust du diese Dinge …?» (Mt 21,23). – «Im Auftrag Meines Vaters, der Mich hierher gestellt hat.»
Beachten Sie, was Jesus ihnen sagte: «Habt ihr noch nie in den Schriften gelesen: ‹Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden …›?» Die vielen ergänzenden Implikationen dieser Frage Jesu trafen den Kern der so tragisch irregeführten und selbstverherrlichenden Theologie der jüdischen Führer.
Vielleicht kannten die religiösen Führer den Psalm nicht so wie die, die Gott wirklich anbeteten und Psalm 118 zwei Tage zuvor bei der Ankunft des Messiasʼ Israels gerufen hatten.
Vielleicht hatten sie den Psalm gelesen, aber es war für sie bloss ein sich wiederholendes Ritual, eine Routine ohne besondere Bedeutung. Gleicherweise hatten sie auch die richtige Antwort auf die Frage, wo der Messias geboren werden sollte, aber sie machten sich nicht auf den Weg nach dem wenige Kilometer entfernten Bethlehem, um die angekündigte Geburt selbst zu untersuchen (Mt 2,1-6).
Vielleicht war Psalm 118 für sie bloss eine traditionelle Übung ohne persönliche Bedeutung. Und für einige war es gewiss nicht einmal das inspirierte heilige Wort Gottes.
Vielleicht hatten die religiösen Führer ihre Tradition mit Gottes Wort vermengt, sodass diese Mischung bloss eine Form gottesfürchtiger Frömmigkeit, anstatt echten geistlichen Lebens war.
Aber ungeachtet dessen, übersteigt eine wichtige Wahrheit den Rest: Psalm 118 ist eine starke Bestätigung des messianischen Anspruchs Jesu in der Frage, wer der Messias Israels ist. Wer auch immer der Messias war, musste zunächst verworfen werden, bevor Er herrschen konnte, damit die Schrift erfüllt würde. Der Messias sollte nicht nur verworfen werden, sondern Seine Verwerfung musste auch von denen kommen, die religiöse Autorität und Verantwortung hatten. Diese Prophezeiung wurde genau von denen erfüllt, die gerade in dem Moment Jesus ablehnten. Diese Stunde war die vom dreieinigen Gott bestimmte Zeit der Verwerfung Jesu – nicht Seiner Herrschaft. Es geschah so, wie es der dreieinige Gott in der ewigen Vergangenheit verordnet hatte. Nichtsdestotrotz waren jene, die Ihn verwarfen, für ihre Taten verantwortlich (Mt 21,44).
Die Hohenpriester und Ältesten waren nicht nur die Bauleute, die den Stein verwarfen. Sie waren auch diejenigen, die Gott dem Vater widerstanden, weil Gott selbst den Stein platziert hatte. Sie – nicht der Stein – waren es, die in direkter Opposition und Feindschaft zu Gott standen; und die Schrift verurteilte sie allesamt. Ironischerweise verringerte die Verwerfung des Steins vonseiten der religiösen Führer den Anspruch Jesu nicht: Je stärker die ablehnende Reaktion der Führer war, desto stärker war die Bekräftigung des messianischen Anspruchs. Gottes eigenes Wort prophezeite, dass dies geschehen würde – und musste –, genau so, wie es tatsächlich geschah. Und unabhängig davon, ob es nun prophezeit war oder nicht, beabsichtigten die religiösen Führer, ihre Ablehnung gegen «das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt» (Joh 1,29), zu verstärken.
Der Stein war vorhanden, genauso wie Seine Verwerfer. Jesus zitierte nicht irgendeinen altertümlichen Vers, niedergeschrieben in irgendeiner verstaubten Schriftrolle. Das fleischgewordene Wort brachte das lebendige und bleibende Wort Gottes hervor. Und das wurde vor ihnen umgesetzt, sogar mit den denkbar unwilligsten Beteiligten. Zum zweiten Mal in zwei Tagen hatten Petrus und Johannes einen Teil von Psalm 118 gehört, zitiert von Jesus, der damit den zweiten Abschnitt Seiner Lektion abschloss.
Die von Jesus beabsichtigte weiterführende Unterweisung erforderte weitere Elemente, die in Kraft treten sollten. Einmal mehr bildeten die Ereignisse der Passahwoche den geeigneten Lehrstoff für solch tiefe geistliche Lektionen. In Matthäus 22 beantwortete Jesus mehrere Fangfragen, die verschiedene religiöse Gruppierungen stellten. Es waren hoffnungslose Versuche, Jesus über irgendein falsches Wort, das Er sprach, stolpern zu lassen. Aber das Wort Gottes (Joh 1,1; Offb 19,13) hatte keine falschen Worte in sich. Es wäre für sie leichter gewesen, sich daran zu versuchen, die Sonne zu verdunkeln, als das Wort, das Fleisch wurde (Joh 1,14), dazu zu bringen, über Seine eigene Wahrheit zu stolpern. Jesus beendete diese Auseinandersetzungen mit einer biblischen Bekräftigung Seiner Messianität, indem Er auf Seine präexistente Beziehung zu König David hinwies (Mt 22,41-46). Indem Er Psalm 110,1 zitierte («Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten …»), bewies Jesus anhand der Schrift, dass der Messias sowohl Davids Sohn (physischer Erbe) als auch Davids Gott («meinem Herrn») war. Das Resultat der verschiedenen Antworten und sogar einer einfachen Frage Jesu war: «Niemand konnte ihm ein Wort antworten, noch wagte jemand von dem Tag an, ihn ferner zu befragen» (Mt 22,46).
Nachdem Er die Hartherzigen zum Schweigen gebracht hatte, ging Jesus in die Offensive. In Matthäus 23 lehrte Er die Volksmassen, indem Er die Gebräuche der Schriftgelehrten und Pharisäer tadelte. Als Er Seine Anklage an die religiösen Führer beendete, kündigte Jesus jener Generation, die Ihn ablehnte, und anderen Generationen, die Ihn ablehnen würden, das bevorstehende Gericht an (Mt 23,34-36). Aber sogar während Er tadelte, zeigte sich die tiefe Liebe des tiefbetrübten Messias: «Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen» (Mt 23,37-38).
Dann sagte Jesus etwas völlig Unerwartetes – für die Jünger, für die Menschenmenge und für Seine Gegner. Er zitierte genau die Aussage von Psalm 118, die viele der Volksmenge nur zwei Tage zuvor, bei Seinem unvergesslichen Einzug in Jerusalem, ausgerufen hatten: «Denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: ‹Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!›» (Mt 23,39).
Wenn wir darüber nachdenken, müssen die Vorhersagen Jesu die grosse Mehrheit der Zuhörer ziemlich verwirrt haben. Jesus machte Seine Aussagen am gleichen Tag wie Er Seine Reden in Matthäus 21 und 22 hielt, und etwa 48 Stunden nach Seinem sogenannten «triumphalen Einzug» in Jerusalem. Seine Argumentation erscheint zusammenhangslos, als ob zwei verschiedene Gespräche gleichzeitig stattfanden, jedes unvereinbar mit dem anderen. Jesus verlangte zukünftigen Lobpreis von Israel, einen Lobpreis, der Ihm nur wenige Tage zuvor gegeben worden war. Das Volk hatte schon die Worte öffentlich ausgerufen, die Jesus für die Nation als notwendig bezeichnete, um Ihn zu sehen, nämlich: «Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!» (Mt 21,9; Ps 118,26). Eines ist sicher: die Antwort, die Jesus gab, zeigte auf, dass Er Psalm 118 nicht im «triumphalen Einzug» erfüllt sah.
Warum akzeptierte Jesus Israels Lobpreis bei der Ankunft seines Messiasʼ nicht? Einfach gesagt: Er konnte den Lobpreis zu der Zeit nicht annehmen, weil Psalm 118,22 («Der Stein, den die Bauleute verworfen haben …») noch nicht geschehen war, der aber in Seiner Kreuzigung gipfeln würde. Das Volk sang und begehrte Psalm 118,25-26: «Bitte, Herr, rette doch (Hosanna)! Bitte, Herr, gib doch Gelingen! Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn!» Aber solche prophezeiten Tage des Segens konnten nicht kommen, bevor die Bauleute nicht den von Gott selbst hingestellten Stein verworfen hatten. Die Zeiten des Segens konnten nicht kommen, wenn nicht das Lamm Gottes die Sünde der Welt richtig sühnte (Joh 1,29). Die meisten in Israel – besonders die verschiedenen religiösen Gruppierungen – sahen keine Notwendigkeit für eine solche Sühnung; immerhin hatten sie ja eine funktionierende Opferung der Tiere im Tempel. Jesus liess es nie zu, dass diese niedrigsten Bedürfnisse Seine Gedanken verliessen. Jesus hatte nicht am «triumphalen Einzug» teilgenommen – es war nur eine Vorschau. Der wahre triumphale Einzug wartet noch auf Ihn.
«Denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: ‹Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!›» (Mt 23,39). Offensichtlich ist diese Erklärung Jesu keine völlige Aufgabe des Volkes Israel. Eines Tages wird Gott Seinen Geist über das jüdische Volk ausgiessen. Dann werden sie zutiefst trauern um Den, den sie abgelehnt haben. Eines Tages wird Israel sehend: «Es wird geschehen an jenem Tag, da werde ich alle Nationen zu vertilgen suchen, die gegen Jerusalem herankommen. Und ich werde über das Haus David und über die Bewohner von Jerusalem den Geist der Gnade und des Flehens ausgiessen; und sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen gleich der Wehklage über den einzigen Sohn und bitterlich über ihn Leid tragen, wie man bitterlich über den Erstgeborenen Leid trägt» (Sach 12,9-10). Eines Tages, und zwar Jahrhunderte nach Christi Tagen auf Erden, wenn Er wiederkommt, wird Israel wieder Psalm 118 singen. Aber dann wird Er gerne akzeptieren, was ohnehin von Anfang an rechtmässig Sein war. Das nächste Mal wird – nachdem das Volk und alle Nationen gereinigt worden sind – Lobpreis hervorströmen. Beim nächsten Mal wird Jesus Jerusalem in vollkommen verklärter Herrlichkeit betreten (Mt 25,31) – und auf einem weissen Pferd (Offb 19,11).
In seiner Unwissenheit wollte Israel die Herrlichkeit ohne das Kreuz. Wie Petrus nur ungern und langsam lernen würde, kam die Herrlichkeit des Messias nicht ohne vorherige Leiden. Dies schrieb er später in 1. Petrus 1,10-11: «Eine Errettung, über welche die Propheten nachsuchten und nachforschten, die von der Gnade euch gegenüber geweissagt haben, forschend, auf welche oder welcherart Zeit der Geist Christi, der in ihnen war, hindeutete, als er von den Leiden, die auf Christus kommen sollten, und von den Herrlichkeiten danach zuvor zeugte.»
Dies war das dritte Mal in drei Tagen, dass ein Abschnitt von Psalm 118 in der Öffentlichkeit zitiert wurde. Und was noch wichtiger ist: Dies war das dritte Mal, dass Petrus und Johannes diesen messianischen Psalm selbst in der Karwoche hörten, während sich das Drama vor ihren Augen entfaltete.
Aber dies war nicht das letzte Mal, dass Psalm 118 während der Karwoche angeführt wurde. Ein sehr wichtiger Abschnitt, der vierte Teil von Jesu Lektion, sollte bald beginnen.
Lukas 22,8 beschreibt, dass Jesus Petrus und Johannes auswählte, um das Passah vorzubereiten, das Er und Seine Jünger später an diesem Abend gemeinsam feiern würden. Im Hinblick auf die bevorstehende Erprobung und Leiden Jesu – etwa 24 Stunden Seines fleischgewordenen Lebens verblieben Ihm noch –, erscheint es unklug, zwei der eher hervorstechenden Jünger loszuschicken, um das Passahmahl vorzubereiten. Sollten nicht besser zwei andere Diener diese Routineaufgabe erfüllen oder zumindest zwei der «weniger wichtigen» Jünger das Fest vorbereiten? Es verblieb doch so wenig Zeit und Jesus hatte Seine Jünger noch viel, viel mehr zu lehren (Joh 16,12) – besonders diesen zwei wichtigen Mitgliedern Seines inneren Kreises. Hätte Jesus nicht wichtigere Lektionen für sie gehabt, als die körperliche Aktivität bei der Vorbereitung des Passahs? Tatsächlich unterrichtete Jesus sie sowohl in Bezug auf damals als auch vorbereitend für die Zukunft.
Der entscheidendste Moment in der Passahvorbereitung war, wenn das Lamm zur Schlachtung in den Tempel gebracht wurde. Viele Tausende Teilnehmer gingen für ihre Familien oder Gefährten am vorgeschriebenen Nachmittag vor dem Passahmahl mit ihren Lämmern zum Tempelareal. Aber man konnte nicht zum Tempel kommen und das Lamm schlachten, wann immer man wollte; alles musste in einer angemessenen Ordnung getan werden – und in angebrachter, anbetender Weise. Die Zahl an Passahlämmern, die geschlachtet werden sollten, erforderte die Bildung von drei verschiedenen Gruppen. Diese betraten den vorgesehenen Bereich, sobald die Priester und Leviten sie riefen. Während sich die Volksmassen für die Opferung der Lämmer versammelten, sang der gewaltige Levitenchor den Hallel, der die Psalmen 113-118 beinhaltete. Letzten Endes wurden die Psalmen 113-118 aufgrund ihres Gebrauchs während der Passahfeierlichkeiten «Der ägyptische Hallel» genannt. Jeder dieser Psalmen erinnerte die Teilnehmer an Gottes Güte, Gnade und Sorge für Israel. Die Gemeinde nahm an der Weihe teil, indem sie die erste Zeile jedes Psalms wiederholte, nachdem die Leviten sie gesungen hatten. Sie sangen ebenfalls «Hallelu Jah» (Hallelujah – gepriesen sei Gott!) am Ende jeder Zeile.
Es war eine sehr feierliche Zeremonie, die während der eigentlichen Opferung der Lämmer erfolgte. Die Teilnehmer – nicht die Priester – töteten ihre eigenen Lämmer beim Signal der silbernen Trompeten. Daneben standen in zwei Reihen die begleitenden Priester, die warteten, um mit ihren Schalen das Blut der Opfer aufzufangen. Jede Schale wurde in den Reihen weitergereicht, bis das Blut schliesslich am Fuss des Altars ausgegossen wurde.
Wenn der Levitenchor zu Psalm 118 kam, wiederholte die gesamte Gemeinde die Verse 25-26: «Bitte, Herr, rette doch! Bitte, Herr, gib doch Gelingen! Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn! Vom Haus des Herrn aus haben wir euch gesegnet.»
Viele der Menschen, die gerade ihre Lämmer geschlachtet hatten, hatten zu Beginn der Woche dieselben Verse ausgerufen und gesungen, als Jesus in Jerusalem einzog. Dies waren exakt die Worte, von denen Jesus erklärt hatte, dass ganz Israel sie sagen würde, bevor es Ihn wiedersehen würde. Vielleicht schauten sich einige an den Tempelmauern um und erwarteten in dem Moment einen weiteren dramatischen Einzug Jesu und irgendein prophetisches Ereignis, das diesen Vortrag von Psalm 118 begleitete. Stattdessen sahen sie nur die geopferten Lämmer vor sich – makellos und unbefleckt – und wie das Blut ihrer Leben am Altar vor Gott ausgegossen wurde. Die Bedeutung dieses dreifachen Gebrauchs von Psalm 118 verursachte unter den Menschenmengen zweifellos viele Gespräche und Diskussionen, während die Teilnehmer den Tempelbereich räumten, um die letzten notwendigen Dinge für das in nur wenigen Stunden stattfindende Passahfest vorzubereiten.
Auch Petrus und Johannes hörten – und sangen zu dieser Zeit – Psalm 118, während sie im Tempelhof standen und ihr eigenes Passahlamm opferten. Die zwei Jünger könnten einiges von dem verstanden haben, was Jesus sie lehren wollte. Doch zu diesem Zeitpunkt kämpften sie gegen die wachsende Befürchtung an, dass das wahre Lamm Gottes bald in gleicher Weise zur Schlachtung geführt werden sollte. Erfasste einer von beiden – oder beide – die von Jesus beabsichtigte Lektion? Verstanden sie, dass Er gezielt sie beide als Lernenden geschickt hatte, um das Passahmahl vorzubereiten? Schauten sie sich schweigend an und fragten sich, ob der jeweils andere auch den wiederholten Gebrauch und die Bedeutung von Psalm 118 verstanden habe? Diskutierten Petrus und Johannes darüber auf ihren Weg zurück zum Ort, wo das Passah gefeiert werden sollte, so, wie sie oft über die Bedeutung von Jesu Worten diskutiert hatten? Oder gingen sie schweigend zurück, jeder für sich allein mit seinen bangen Vermutungen darüber, was der weitere Abend bringen würde? Sowohl Petrus als auch Johannes hatten wiederholt gehört, wie Jesus Seine eigene bevorstehende Hinrichtung ankündigte. Doch die Grenzen ihrer Liebe – in Verbindung mit ihrem Mangel an Verständnis (Lk 9,44-45), besonders vonseiten des Petrus – gab ihnen die falsche Hoffnung, dass Jesus irgendwie doch nicht in dieser Nacht oder morgen sterben würde. Für sie war es genug, dass an diesem Tag ein Lamm vor Gott geschlachtet wurde; sicherlich würde Gott nicht nach dem Leben eines anderen verlangen.
Dies war das vierte Mal, dass Petrus und Johannes hörten, wie in dieser Woche Psalm 118 zitiert wurde; aber es gab noch eine wichtige Anwendung zur Vollendung der Lektion Jesu.
Obwohl das Volk Israel den ägyptischen Hallel (Ps 113-118) an anderen vorgeschriebenen jüdischen Festen sang, standen diese Psalmen besonders mit dem Passah in Verbindung. Während des Passahmahls sangen oder rezitierten die Familien den Hallel in ihren Wohnungen in etwa der gleichen Weise wie der Levitenchor ihn früher am Tag während der Opferung der Lämmer gesungen hatte. Vor dem Passahmahl sangen die Anbeter die Psalmen 113 und 114. Nach dem Mahl sangen sie die Psalmen 115-118. Das alles wurde in Übereinstimmung mit der vorgeschriebenen historischen Ordnung getan. Ziemlich sicher wurde dieser letzte Psalm des Hallels von Jesus und Seinen Jüngern an ihrem «letzten Abendmahl» gesungen, bevor sie das Gemach verliessen (Mt 26,30). Auf jeden Fall dürfte Psalm 118,22-29 eines der letzten Dinge gewesen sein, das vor dem unaussprechlichen Leiden Christi mündlich weitergegeben wurde: «Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Von dem Herrn ist dies geschehen; wunderbar ist es in unseren Augen. Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; frohlocken wir, und freuen wir uns in ihm. Bitte, Herr, rette doch! Bitte, Herr, gib doch Gelingen! Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn! Vom Haus des Herrn aus haben wir euch gesegnet. Der Herr ist Gott, und er hat uns Licht gegeben; bindet das Festopfer mit Stricken bis an die Hörner des Altars. Du bist mein Gott, und ich will dich preisen; mein Gott, ich will dich erheben. Preist den Herrn, denn er ist gut, denn seine Güte währt ewig!»
Die Lektion, die der fleischgewordene Gott gelehrt hatte – die ganze Woche, sogar früher an jenem Tag, und nun zum Passah –, widerhallte in zigtausend verschiedenen Wohnungen und Versammlungen im übervölkerten Jerusalem. Jede einzelne Feier des Passahfestes zeigte auf Den, der schon die ganze Woche die Stadt in Aufruhr versetzt hatte. Jede einzelne Feier legte von Gottes Sohn – und Gottes Opfer – göttliches Zeugnis ab.
Jesus und die Elf sangen Psalm 118 am Tisch des Herrn – und beim eigenen Passahlamm des Herrn. Für immer verloren gegangen sind – ausser für die, die anwesend waren – die Handzeichen und Betonungen in der Stimme bei den verschiedenen Worten von Psalm 118, die Jesus besonders auf sich angewandt haben mag. Zeigte Jesus auf sich selbst, durch Gestik oder Stimme, als Er sagte: «Stein … Eckstein … Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn! … Der Herr ist Gott, und er hat uns Licht gegeben; bindet das Festopfer mit Stricken…»? Vielleicht hat Er das getan. Doch die Worte allein, besonders im Hinblick auf ihre Wiederholungen während der Woche, dürften lauter gesprochen haben als bei jeder zusätzlichen Betonung.
Haben wohl Petrus und Johannes den Augenkontakt gesucht, als sie damit kämpften, bei diesem Psalm mitzusingen? Konnten sie das tun, ohne in Tränen auszubrechen, während sie beide realisierten, vielleicht mehr als die anderen, was demnächst passieren würde? Sie waren nur wenige Stunden zuvor Zeuge einer plastischen Vorschau in Gottes Tempel gewesen. Hat Jesus ihnen vielleicht Sein Gesicht leicht zugewandt und sie mit den heiligen, durchdringenden Augen Gottes geprüft, um zu sehen, ob sie, wenn auch in der begrenzten Weise eines Kindes, verstanden hatten, was Er sie Schritt für Schritt gelehrt hatte?
Jesus und die Jünger sangen Psalm 118 und verliessen das Gemach nach Gethsemane. Überall in der Stadt, und weniger als zwei Kilometer von dem Ort entfernt, wo Jesus den Seinen versprach: «Ich werde von jetzt an nicht von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis zu jenem Tag, wenn ich es neu mit euch trinke in dem Reich meines Vaters» (Mt 26,29), feierten Abertausende von Israels religiöser Gesellschaft das gleiche Passahmahl und befolgten genau die gleiche Passahordnung wie Jesus und Seine Jünger. Unabhängig von hoher Stellung oder niedrigem Status rezitierten alle gemeinsam oder jeder einzeln Psalm 118; niemand war ausgenommen. Die religiösen Führer, die das Passah feierten, wiederholten an jenem Abend, was sie gehört und was sie selbst kürzlich gesagt hatten. Einige von ihnen würden bald mehr oder minder am Prozess und Opfertod des Lammes beteiligt sein. Jeder würde – wenn überhaupt – seine Meinung zur Bedeutung des Psalms äussern, besonders hinsichtlich der mehrfachen Hinweise auf Jesus, die diese Woche bereits erfolgt waren.
Scharen von Juden, die in dieser Nacht das Passah feierten, rezitierten Psalm 118. Unzweifelhaft waren einige von ihnen Teil der Volksmenge gewesen, die Tage zuvor, als Jesus nach Jerusalem gekommen war, «Hosanna!» gerufen hatte. Einige hatten genau an diesem Tag «Hosanna» gerufen, als sie ihre Passahlämmer opferten, genauso wie es Petrus und Johannes getan hatten. Die wiederholten Verse, verbunden mit den Ereignissen der vergangenen Woche, brachten nahezu jeden Haushalt dazu, die Bedeutung dieser Verse leidenschaftlich zu diskutieren, insbesondere in Bezug auf die Identität und Mission Jesu. Die Person Jesu hatte über Jahre gewaltige Debatten verursacht, aber während dieses Passahfestes erreichten sie ihren Höhepunkt. Die genau abgestimmten Ereignisse und die mehrfachen Anführungen von Psalm 118 fachten lediglich die bereits weissglühende Diskussion um Jesus an. Kein anderes Gesprächsthema würde die Gemüter und die Lippen der Passah-Feiernden nur annähernd so stark bewegen wie das Thema von Dem, der im Namen des Herrn gekommen war.
Gott legte in Seinem geschriebenen Wort Zeugnis über Sein fleischgewordenes Wort ab. Er gab auch Zeugnis durch Israels eigene Lippen – von betrübten Jüngern über ablehnende Feinde bis hin zu den verwirrten Massen. Alle – sogar die radikalsten Verwerfer – legten Zeugnis ab vom Stein Israels, dem Sohn Gottes, dort hingestellt von Gott selbst. Das ganze Volk würde am nächsten Morgen aufwachen und sehen, wie ihr Opferlamm vor ihren eigenen Augen geschlachtet werden würde. Ihr Stein war durch die Bauleute verworfen worden. Das alles geschah in einer minutiösen Erfüllung von Gottes heiligem Wort: «Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Von dem Herrn ist dies geschehen; wunderbar ist es in unseren Augen. Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; frohlocken wir, und freuen wir uns in ihm. Bitte, Herr, rette doch! Bitte, Herr, gib doch Gelingen! Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn!» (Psalm 118,22-26).
Von Greg Harris