21.10.2011

Liebe: Es gibt nichts Grösseres

«Die Hauptsumme aller Unterweisung aber ist Liebe aus reinem Herzen und aus gutem Gewissen und aus ungefärbtem Glauben» (1.Tim 1,5).
Kann man Liebe erforschen? Deutsche Forscher begleiteten 279 Männer und Frauen vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter, das heisst, vom 3. bis zum 19. Lebensjahr, und sie kamen zu erstaunlichen Resultaten. Die Wissenschaftler besuchten die Kinder zuhause und beobachteten sie in ihrem familiären Umfeld. Sie notierten sich, wie die Eltern reagierten, wenn die Kinder weinten, schrien, nicht essen oder nicht schlafen wollten. Gegen Ende der Forschungsarbeit wurde ihnen Blut abgenommen. Anhand des Blutbildes der Jugendlichen, deren Eltern mit ihren Kindern eher barsch, kühl und ungeduldig umgingen, fanden die Forscher heraus, dass den jungen Erwachsenen zwei Substanzen im Blut fehlten, die vor Herzinfarkt und Schlaganfall schützen. Bei den Probanden, die eine liebevolle Fürsorge erfahren hatten, waren die schützenden Substanzen ausreichend vorhanden. Eine warmherzige Fürsorge führt ebenfalls dazu, dass die Kinder mehr Rezeptoren für Stresshormone bilden. Wer von seinen Eltern liebevoll betreut wird, klagt im mittleren Alter weniger über Ängste, ist seltener feindselig und aggressiv und kann besser mit Belastungen umgehen.
Der wahrscheinlich emotionalste Satz der Welt lautet: «Ich liebe dich.» Dieser Satz, umgesetzt in die Tat, berührt nicht nur die Herzen, er verändert sie, ermutigt, tröstet, hilft auf die Beine, schafft Linderung, nimmt die Aggression, schenkt Zutrauen und Hoffnung. Liebe bedeutet nicht, Sünde zu übersehen oder über böse Dinge nicht zu urteilen, doch entscheidend ist, wie man mit den Menschen umgeht, wie man ihnen beisteht und Hilfestellung leistet.
Gott sagt jedem Menschen ganz persönlich: «Ich liebe dich», dies hat Er uns in Jesus bewiesen: «Als aber die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Retters, erschien, da hat er uns – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hätten, sondern aufgrund seiner Barmherzigkeit – errettet durch das Bad der Wiedergeburt und durch die Erneuerung des Heiligen Geistes, den er reichlich über uns ausgegossen hat durch Jesus Christus, unseren Retter» (Tit 3,4-6).
Die Liebe Gottes brachte uns Seine ganze Gnade und Barmherzigkeit. Gott rechnete uns die Sünden nicht an, sondern vergab sie durch das Liebesopfer Jesu. Gott ist liebevoll, erbarmend, wohlwollend.
Nun müsste man meinen, dass doch auch die Christen dieser Liebe und Barmherzigkeit, die sie selbst erfahren haben, durch ihr ganzes Wesen Ausdruck geben, ja, dass sie ihre Mitchristen und Mitmenschen lieben. Friedrich von Bodelschwingh hat deshalb gesagt: «Lass die barmherzige Auffassung aller Dinge deine Lebensberufung sein.» Doch stattdessen strotzen oftmals die Christen, die am frömmsten sein wollen, vor Selbstgerechtigkeit. So mancher erweist leider kaum Gnade; statt barmherzig zu sein, ist er nur hart, indem er auf Gesetze und Gebote pocht. Er wird von einem «Richtgeist» beherrscht, der alles andere widerspiegelt als die Liebe des Geistes Gottes. Solche Christen können auf jeden Fehler zeigen, sie sind vorzügliche Ermahner und Besserwisser und sie meinen, in alledem besonders heilig zu sein. Doch die fehlende Liebe ist der Beweis dafür, wie wenig sie eigentlich selbst echte Christen sind. Im evangelischen Nachrichtenmagazin ideaSpektrum wurde ein Interview mit Pastor Reinhard Holmer veröffentlicht. Sein Vater Uwe Holmer hatte zusammen mit seiner Ehefrau nach dem Zusammenbruch der DDR den damaligen Staats- und Parteichef Erich Honecker und seine Frau Margot bei sich aufgenommen. Das war ein Akt vorbildlicher Feindesliebe (Mt 5,44), denn Holmers waren in den Jahren zuvor durch das atheistische Regime als Christen sehr benachteiligt worden. Reinhard Holmer betont, wie die meisten kritischen Kommentare für diese gute Tat ausgerechnet von Christen kamen. «Da war beispielsweise ein Kirchenältester aus meiner Gemeinde, der mich fragte, wie die Kirche so etwas machen könne. Ich habe ihm eine Gegenfrage gestellt: Wie soll die Kirche jemals wieder über den barmherzigen Samariter predigen, wenn wir sagen: ‹Das gilt für jeden, aber nicht für Honecker›? Nichtchristen haben das interessanterweise weit weniger verwerflich gefunden. Ein guter Bekannter – ein Atheist – sagte mir: ‹Reinhard, ich kann verstehen, dass dein Vater das gemacht hat. Wenn ihr nicht nur reden wollt, sondern euren Worten auch Taten folgen sollen, könnt ihr gar nicht anders handeln›.» Weiter erklärt Reinhard Holmer im Interview: «Wenn wir einen Gott der Liebe haben, dürfen wir nicht lieblos mit denen umgehen, die uns angreifen.»
In der folgenden Nummer von idea erschien prompt ein Leserbrief, in dem dem Kirchenältesten Recht gegeben und das Handeln Holmers kritisiert wurde. Daran sieht man einmal mehr, wie wenig manche Christen die liebende Barmherzigkeit Gottes verstanden haben. Darf man den Feinden des Christentums nicht mit Liebe und Barmherzigkeit begegnen, in der Hoffnung, dass sie dadurch die Gnade Gottes erkennen, ihre Herzen weich werden und sie die Barmherzigkeit in Jesus Christus auch für sich in Anspruch nehmen? Gott ist den Sündern bereits gnädig, bevor sie Busse tun: «Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren» (Röm 5,8). Ist es nicht gerade diese Gnade und Güte, die zur Busse leitet?!
Es wird viel zu wenig beachtet, dass die Liebe die Hauptsumme aller Unterweisung ist. Es geht nicht um aburteilen, ausgrenzen, zuschlagen und zerschlagen, hinterherrennen, beschimpfen und kritisieren, sondern darum, in Liebe zu unterweisen, aufzurichten, beizustehen, weiterzuführen und zu züchtigen. So manches Kind aus christlichem Elternhaus hat sich abgewandt, weil es das Christentum nur mit Strenge in Verbindung brachte, und nicht mit Liebe. Dabei sagt das Neue Testament doch deutlich: «Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, sondern zieht sie auf in der Zucht und Ermahnung des Herrn» (Eph 6,4). Man kann auch übersetzen, dass man die Kinder nicht zur Erbitterung treiben soll. Deshalb sagt es Paulus im Kolosserbrief so: «Ihr Väter, erbittert eure Kinder nicht, damit sie nicht scheu werden» (Kol 3,21).
Gemeinden spalten sich letztlich nicht wegen verschiedener theologischer Ansichten, sondern wegen Lieblosigkeit. Dogmatisch scheint alles zu stimmen, für jedes Urteil hat man den passenden Bibelvers, aber dass die Liebe die höchste Dogmatik ist, darauf geht man am wenigsten ein. «Die Hauptsumme aller Unterweisung aber ist Liebe …»
Es ist gut vorstellbar, dass uns am Ende unseres Lebens die Lieblosigkeit unseres Handelns am meisten bedrücken wird und die Frage der Liebe vor dem Richterthron Christi die grösste Bedeutung haben wird. Es ist auffallend, dass die Liebe immer wieder in Bezug auf die Wiederkunft Jesu besonders erwähnt wird. (Erfahren Sie darüber mehr in der brandneuen Broschüre Liebe – was uns zur Entrückung fehlt, Bestell-Nr.: 180006, erhältlich ab Mitte November).
Am 15. August 1944 wurde der Diplomat und Jurist Hans Bernd von Haeften vom Volksgerichtshof in Berlin zum Tode verurteilt und wenige Stunden später gehenkt. Der 38-Jährige gehörte im Dritten Reich zur Bekennenden Kirche. Kurz nach dem Todesurteil schrieb er an seine Ehefrau einen letzten Brief, worin ersichtlich wird, was ihm besonders am Herzen lag:
«Meine liebe liebste Frau, meine gute Barbara! Wohl in wenigen Stunden werde ich in Gottes Hände fallen. So will ich Abschied von Dir und den Kindern nehmen … Lass die Kinder viel auswendig lernen an Bibeltexten und Liedern, damit sie es einmal in der Not im Herzen tragen. Es kommen Zeiten des Zweifels und der Entfernung, aber das Leben wird die Kinder zu dem festen Grund zurückbringen, wenn er in der Jugend gelegt ist. Jesus Christus ist der Weg und die Wahrheit und das Leben (Johannes 14,6).
Als Inschrift auf dem Grabstein fände ich unseren Trauspruch ‹Gott ist Liebe› recht. Barbara, in diesen Haftwochen habe ich dem Gericht Gottes stillgehalten und meine Schuld erkannt und vor Ihm bekannt. Gottes Gebote halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott: Das ist die Regel, gegen die ich verstossen habe.
Liebste Frau, ich sterbe in der Gewissheit göttlicher Vergebung. Ich habe die Zuversicht, dass Gott Euch alle an Seinen Vaterhänden auf Euren Erdenwegen geleitet und endlich zu sich ziehen wird. Unser Erbarmer wird auch Deinen Schmerz allmählich lindern und Dein Leid stillen … Meine gute Barbara, ich danke Dir aus tiefstem Herzen für alle Liebe und allen Segen, die Du mir in den 14 Jahren unserer Ehe geschenkt hast. Bitte vergib mir allen Mangel an Liebe. Ich habe Dich sehr viel mehr lieb, als ich Dir gezeigt habe. Aber wir haben eine Ewigkeit vor uns, um uns Liebe zu erweisen. Dieser Gedanke sei Dir ein Trost in der Trübsal Deiner Witwenjahre. Ich bin gewiss, dass wir beide mit allen unseren Lieben wieder vereint werden in Gottes unaussprechlichem Frieden … Auch schon auf Erden gehörst Du zum Leib Christi, der alle die Seinigen – sie mögen vor oder hinter der grossen Verwandlung stehen – auf wunderbare Weise zusammenschliesst. Betet für mich den 126. Psalm; über ihn ging die letzte Predigt am Tage der Verhaftung. Mein letzter Gedanke, liebste Frau, wird sein, dass ich euch des Heilands Gnade und meinen Geist in Seine Hände befehle. So will ich glaubensfroh sterben … So grüsse ich Euch, meine lieben Liebsten, mit dem alten Grusswort: ‹Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Und der Friede Gottes bewahre eure Herzen und Sinne in Christo.› Dein Hannis.»
Wenn die Liebe am Ende eine solch grosse Bedeutung hat, dann sollte sie unter allen Umständen heute schon mehr Raum in uns gewinnen und unsere Taten bestimmen. Um eine gesegnete Veränderung herbeiführen zu wollen, müssen vielleicht erst wir selbst verändert werden. Um wirklich lieben zu können, müssen wir dem Herrn in uns Wohnung geben und es zulassen, dass Er durch uns Seine Liebe zeigen kann.
«Gott liebt uns, wie wir sind, aber Er liebt uns zu sehr, um uns so zu lassen, wie wir sind» (Autor unbekannt).
Von Norbert Lieth