30.01.2013

Christianisierung: Der Abfall der Kirche


Als im Römischen Reich die Christenverfolgung ein Ende nahm, sollte sich dies für die Gemeinde erstaunlicherweise nicht unbedingt als positiv erweisen. Unter anderem ging damit der Glaube an ein zukünftiges Königreich Gottes auf Erden verloren.

311 n.Chr. erliess Kaiser Galerius ein Toleranzedikt. 313 n.Chr. gewährte Konstantin der Grosse den Christen im Mailänder Edikt Religionsfreiheit, ab 324 n.Chr. wurde das Christentum offiziell vom Staat gefördert. 380 n.Chr. schliesslich wurde es von Kaiser Theodosius I zur einzig erlaubten Staatsreligion erhoben. Jetzt begann die Regierung mit der Verfolgung anderer Religionen.

Zunächst schien es, als habe die Kirche mit dem Übergang vom Status der Verfolgten zur alleinigen Staatsreligion einen enormen Sieg errungen. Aber im Laufe der Zeit zeigte sich, dass dieser «Sieg» eher einer ansprechend verpackten Niederlage glich. Satan erkannte, dass die enge Verbindung zwischen Kirche und Staat eine goldene Gelegenheit bot, die Gemeinde mit Irrlehren zu überschwemmen. Als das Christentum zur einzig erlaubten Religion wurde, wurden die Ortsgemeinden von grossen Massen von Heiden förmlich überrannt, die «Christen» werden wollten. Diese Heiden stellten fest, dass die Anbetung in den Gemeinden sich stark von dem unterschied, was sie aus ihren Tempeln kannten. Während sie vor Bildern ihrer Götter, Göttinnen und Nationalhelden niedergefallen waren und angebetet hatten, gab es in den Kirchen keine Bilder. Bei den Heiden gab es eine Göttin, die sie als Himmelskönigin verehrten; ausserdem feierten sie zahlreiche heidnische Feste, es gab blutige Opfer und eine Priesterschaft. In der Gemeinde gab es nichts von alledem, und wegen dieser Unterschiede schien den Heiden das Christentum bedeutungslos.

Die Christen fürchteten, dass sie die Heiden niemals für Jesus erreichen könnten, solange die Kirche für sie unattraktiv blieb. Deshalb versuchten sie, die heidnischen Praktiken zu christianisieren und dann in die Kirche zu integrieren. Statt der Bilder von Göttern, Göttinnen und Nationalhelden stellten sie Abbildungen von den Aposteln und Märtyrern auf. Die Verehrung von Maria als Himmelskönigin ersetzte die Anbetung der heidnischen Göttin. Das Abendmahl wurde von einem Gedächtnismahl zu einem Opfer, Älteste waren nicht mehr Lehrer, sondern Priester, und heidnische Feste wurden in Form spezieller Feiertage in den Kalender der Kirche aufgenommen.

Zunächst schien es, als sei es richtig, die Methoden von Satans Reich zu übernehmen, um die Bürger dieses Reiches zu erreichen. Die Mitgliedschaft der einzelnen Ortsgemeinden stieg, als Heiden sich zum Christentum bekannten, nachdem es für sie ansprechender geworden war. Aber nach einiger Zeit zeigte sich, dass die meisten dieser Menschen im Herzen Heiden geblieben waren – christianisierte Heiden zwar, aber immer noch Heiden. Im Endeffekt wurden die Gemeinden grösstenteils heidnisch, was Praktiken und Mitglieder betraf. Im Laufe der Zeit «strebten ehrgeizige, weltliche, skrupellose Männer kirchliche Ämter an, um dadurch gesellschaftlichen und politischen Einfluss zu gewinnen». In Westeuropa wurde die Kirche zu einem monströsen religiös-politischen Apparat aufgebaut, der nach und nach die Herrschaft im Staat an sich riss. So war die mittelalterliche Amtskirche nicht durch wahres, biblisches Christentum gekennzeichnet, sondern durch «eine mehr oder weniger korrupte Hierarchie, die die europäischen Staaten kontrollierte».

Als die kirchlich organisierte Christenheit immer mehr abfiel, wurde sogar das Evangelium verdreht. Die Schrift und die Apostel lehrten, dass Erlösung allein aus Gottes Gnade durch den persönlichen Glauben an die Person und das Werk Jesu Christi geschieht (Röm 4,1-5,2; Gal 2,15-16; Eph 2,8-9). Als das Heidentum in die Kirche eindrang, wurde dem Evangelium die heidnische Idee hinzugefügt, dass für die Erlösung menschliche Werke erforderlich sind. Dadurch bliebe jahrhundertelang einer grossen Zahl Menschen der einzige Weg zur Errettung verborgen. Während Satan die institutionelle Kirche in den Abfall führte, veränderte er also gleichzeitig auch die Botschaft, die sie eigentlich verkündigen sollte, sodass die Bürger seines Reiches nicht in das Reich Gottes versetzt werden konnten.

Satan erkannte, dass er die Auslegung der Bibel verdrehen und wenn möglich die Bibellektüre sogar ganz verhindern musste, wenn er die institutionelle Kirche immer tiefer im Unglauben versinken lassen und das Evangelium verborgen halten wollte. 230 n.Chr. veröffentliche Origenes, ein Kirchenführer, der stark von heidnischen Philosophien beeinflusst wurde, eine Arbeit, in der er eine allegorische Methode der Schriftauslegung vorstellte. Anstatt die Worte der Bibel in ihrem gewöhnlichen, alltäglichen Sinn zu verstehen, suchten die Anhänger dieser Methode nach symbolischen, verborgenen Bedeutungen. Dabei wurde der vom Verfasser ursprünglich beabsichtigte Sinn so lange verzerrt, bis der Ausleger das fand, was er gesucht hatte. Wegen Origenes’ herausgehobener Position und seinem damit einhergehenden Einfluss erlangte diese Vorgehensweise in der Amtskirche grosses Gewicht.

Als die Kirche immer heidnischer wurde, musste sie ausserhalb der Schrift nach Rechtfertigungen für ihre Irrlehren suchen. So kam man schliesslich davon ab, in der Bibel die einzige Grundlage für Glauben und Leben zu sehen. Die kirchliche Überlieferung wurde auf eine Stufe mit der Bibel gestellt, und im Laufe der Zeit wurde der Anspruch erhoben und durchgesetzt, dass die Kirche die letztgültige Quelle der Autorität sei. Schliesslich wurde Laien sogar verboten, die Bibel zu lesen, und die Kirche stellte sich vehement gegen die Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen.

Weil Satan die Lehre vom zukünftigen, politischen, theokratischen Reich verabscheut, war er fest entschlossen, sie aus der Kirche auszutilgen. Im Osten war die Vorstellung eines zukünftigen Reiches «bis zur Mitte des zweiten Jahrhunderts ein fester Bestandteil des christlichen Glaubens». Aber gegen Ende des zweiten Jahrhunderts begannen Kirchenführer aus dem ägyptischen Alexandria, sich gegen diese Auffassung zu wenden. Sie waren von der heidnischen philosophischen Vorstellung, dass alles Körperliche böse sei, beeinflusst, und lehnten die Idee eines zukünftigen Reiches mit materiellen Segnungen als zu fleischlich und sinnlich ab. Origenes’ allegorische Auslegungsmethode erleichterte die Verbreitung dieser Ansicht.

Dazu kam, dass sich in der Ostkirche starke antisemitische Tendenzen entwickelten. Heiden, die sich zum Christentum bekannten, wurden allem Jüdischen gegenüber immer voreingenommener. Weil der prämillenialistische Glaube an die irdische, politische Königsherrschaft des Messias das jüdische Volk seit Jahrhunderten angetrieben hatte, wurde dieser Glaube von den Heidenchristen der Ostkirche zunehmend «als ‹jüdisch› und infolgedessen ‹häretisch› gebrandmarkt». Mit anderen Worten, der Prämillenialismus wurde wegen seiner tiefen Verankerung im Judentum mit diesem mitverurteilt.

Im Westen war der Glaube an ein zukünftiges theokratisches Reich im vierten Jahrhundert noch allgemein anerkannt. Er verschwand allmählich, als die Kirche mit dem Staat vereinigt wurde und zunehmend verfiel. Die Schriften von Augustinus (354-430 n.Chr.), dem einflussreichsten Führer der Westkirche, führten dazu, dass der grösste Teil der Amtskirche den Glauben an ein kommendes Reich verwarf. In Vom Gottesstaat lehrte er, dass Gottes verheissenes Reich schon im gegenwärtigen Zeitalter auf der Erde besteht, dass die institutionalisierte Kirche dieses Reich darstellt, dass Satan gebunden ist, dass die Kirche schliesslich die ganze Welt erobern wird und dass das Zeitalter des Königreiches bei Jesu Wiederkunft zusammen mit der Geschichte der Welt enden wird.

Augustinus lehnte die Idee eines zukünftigen Reiches aus demselben Grund wie die alexandrinischen Führer ab. Da ausserdem die Lehren der Kirche zur einzigen Religion des Reiches erhoben worden waren, schien es tatsächlich, als würde sie die Welt erobern. Um seine Auffassung zu verteidigen, wandte Augustinus bei der Auslegung alttestamentliche Prophetien über das zukünftige Reich Origenes’ allegorische Methode an. Seine Ansichten führten dazu, dass die Römische Kirche sich selbst als die «allumfassende Kirche» ansah, «deren Aufgabe darin bestand, alle Menschen in ihre Hürde heimzuholen».

Das Aufkommen der bereits beschriebenen antisemitischen Tendenzen und die Lehre von der Amtskirche als dem von Gott durch die alttestamentlichen Propheten vorhergesagten zukünftigen messianischen Reich waren Teil eines umfassenderen Leitprogramms: Die Ersetzung Israels durch die Gemeinde. Dieser Lehre zufolge hatte Gott das Volk Israel auf ewig verworfen, als es Jesus bei seinem ersten Kommen als seinen Messias ablehnte. Gott hat in der Zukunft keine Pläne mehr mit Israel, und statt Israel ist die Gemeinde sein Volk. Damit wurde die Gemeinde zum «Israel Gottes» und erbte alle dem Volk Israel gegebenen Verheissungen. Eine solche Auslegung verdreht die klaren Aussagen der Schrift und widerspricht offenkundig Gottes Wort (1.Mo 13,14-15; 15,18; 17,7-8.19; 1.Sam 12,22; 2.Sam 7,23-24; Jer 30,11; Röm 11,28-29).

Das Eindringen heidnischer Vorstellungen in die institutionalisierte Kirche, die Verfälschung des Evangeliums, der Missbrauch und die Nichtbeachtung der Bibel, die Ablehnung eines zukünftigen theokratischen Reiches und die Vorstellung, dass die Gemeinde Israel ersetzt, all das führte dazu, dass die mittelalterliche Kirche weit von dem entfernt war, was Gott ursprünglich geplant hatte. Aufgrund des in ihren Reihen herrschenden Abfalls verschuldete die Kirche militärische Kreuzzüge gegen andere bekennende Christen, Juden und Muslime und verfolgte diejenigen, die abweichende Meinungen vertraten, durch die Inquisition. Satan benutzte die mittelalterliche Kirche als Werkzeug, um Gott und Sein Reich zu entehren.

Zwar war die Kirche nach dem vierten Jahrhundert in den Abfall geglitten, aber sie bewahrte trotzdem noch einige Grundelemente der göttlichen Wahrheit, wie zum Beispiel die Gottheit Christi. Und wenn die Bibellektüre und –auslegung auch falsch betrieben wurde, so war man doch auf eine sorgfältige Überlieferung der biblischen Schriften bedacht. Solange einzelne biblische Wahrheiten und die Schrift selbst weiter bestanden, fand Satan keine Ruhe. Er musste diese Bestandteile von Gottes allumfassendem Reich unbedingt aus der Welt schaffen.

Satan versuchte, dieses Ziel durch das Aufkommen einer neuen Religion in Arabien zu erreichen. 610 n.Chr. trat Mohammed, der Stifter des Islam, erstmals öffentlich hervor. Als er 632 n.Chr. starb, bekannte sich ganz Arabien zu seinem Glauben. Im Laufe der folgenden hundert Jahre eroberten seine Anhänger das Heilige Land und Syrien, den grössten Teil des Oströmischen Reiches, drangen im Osten bis nach Indien vor und nahmen Ägypten, ganz Nordafrika und grosse Teile Spaniens ein. Im grössten Teil dieser eroberten Gebiete zerfiel die Kirche wegen ihrer Untreue nach und nach und verschwand schliesslich ganz.

Es bestand die reale Gefahr, dass die arabischen Heere ganz Europa eroberten und in einen muslimischen Kontinent verwandelten. Gott beendete diese Bedrohung, als die Franken im Verbund mit anderen Stämmen unter Karl Martell 732 n.Chr. die Muslime bei Tours vernichtend schlugen. Dadurch wurden die Kirche, die Bibel und Wahrheiten wie die Gottheit Christi vor der möglichen Auslöschung bewahrt.

Von Renald E. Showers