18.11.2012

Ersatztheologie: Raub an den Juden


In der sogenannten «Ersatztheologie» geht es darum, dass die Gemeinde das Volk Israel in Gottes Heilsplan ersetzt hat. Einige Vertreter dieser Lehrmeinung mögen das Wort «Ersatztheologie» nicht sonderlich. Es klingt zu negativ, zu judenfeindlich – vor allem, wenn man die unrühmliche Geschichte des Judenhasses im Namen Christi unter die Lupe nehmen würde. Sie sprechen lieber von einer «Erfüllungstheologie»: «Israel war einfach ein Bild für das wahre Volk Gottes, das die Gemeinde erfüllt.»

Dies mag weniger hart klingen, doch letztendlich kommt es aufs Gleiche heraus: In der Theologie, die die Gemeinde zum neuen Israel erklärt, wird ein Volk (die Juden) durch das andere (die Gemeinde) ersetzt. Daher ist der gebräuchliche Ausdruck «Ersatztheologie» eine durchaus korrekte Bezeichnung für diese Lehre.

Es gibt verschiedene Formen von Ersatztheologie. Der Theologieprofessor Michael J. Vlach unterscheidet drei verschiedene Variationen:

1. Die strafende Ersatztheologie. Sie betont, dass Israel aufgrund seines Ungehorsams von Gott bestraft und für immer durch die Gemeinde ersetzt wurde. (Luther war zum Beispiel ein Vertreter dieser Lehre.)

2. Die ökonomische Ersatztheologie. Sie lehrt, dass es ein Teil von Gottes Heilsplan war, eine ethnische Gruppe (die Juden) durch eine universale Gruppe (die Gemeinde) als Gottes Volk zu ersetzen. Die Vertreter dieser Sicht sprechen davon, dass die Gemeinde eine Fortführung des alttestamentlichen Volkes Israel ist. (Diese Meinung vertreten wahrscheinlich die meisten Ersatztheologen heute.)

3. Die strukturelle Ersatztheologie. Die meisten Ersatztheologen ignorieren laut dem Bibellehrer R. Kendall Soulen grosse Teile des Alten Testaments, weil diese (angeblich) vom Neuen Testament übertrumpft und umgedeutet werden. Dies nennt er eine strukturelle Ersatztheologie, die nicht in erster Linie mit einer bestimmten theologischen Überzeugung (wie die obigen beiden Punkte) zu tun hat, sondern damit, wie man die Bibel liest.

Kurz zusammengefasst lehrt die Ersatztheologie Folgendes: Die Gemeinde bzw. Kirche ist jetzt das wahre Israel, die das alttestamentliche Volk Israel als Gottes Volk ablöst oder fortführt. Ausserhalb der Gemeinde aus Juden und Heiden (Rest der Welt) werden die Juden in Gottes Plan niemals mehr eine besondere Rolle spielen.

Erstaunlicherweise führt diese Sicht jedoch nicht immer dazu, dass Israel gar keine Bedeutung mehr hat. Es gibt moderate Formen der Ersatztheologie, deren Befürworter durchaus eine Erlösung Israels in der Endzeit sehen. So war im von Ersatztheologie geprägten 17. Jahrhundert unter englischen Puritanern und niederländisch-reformierten Theologen der Glaube an eine zukünftige Erlösung Israels üblich.

Diese Lehrmeinung scheint auch heute unter Ersatztheologen recht weit verbreitet zu sein. Doch obwohl mancher an eine zukünftige Erlösung des Volkes Israel glaubt (vgl. Röm 11,26), lehnen alle Ersatztheologen eine zukünftige Wiederherstellung Israels ab. Was ist der Unterschied?

Unter Wiederherstellung verstehen wir eine von der Gemeinde unabhängige und sich von allen Nationen unterscheidende einzigartige zukünftige Rolle Israels in seinem Land, wie das Alte Testament es verspricht. Dies können Ersatztheologen nicht akzeptieren, weil sie nur ein Bundesvolk Gottes sehen (das Neue Testament übertrumpft das Alte). Demnach wird das ethnische Volk Israel nach seiner in der Zukunft liegenden Bekehrung bestenfalls in die Gemeinde aufgenommen, aber keine eigenständige Rolle in Gottes Plan mehr erfüllen.

Diese Sichtweise können wir nicht akzeptieren. Wir glauben, dass das Neue Testament die im Alten Testament begonnene Offenbarung Gottes abschliesst und nicht umdeutet. Wenn wir das Alte Testament lesen, suchen wir die Bedeutung des Textes in erster Linie in dem, was der alttestamentliche Autor tatsächlich ausgesagt hat (und lesen nicht «Gemeinde» hinein). Der bekannte reformierte Ersatztheologe Loraine Boettner (1901-1990) gab selbst sogar Folgendes zu: «Man ist sich im Allgemeinen einig, dass die Prophezeiungen, wenn man sie wörtlich nimmt, eine Wiederherstellung der Nation Israel im Land Palästina vorhersagen, wobei die Juden in diesem Königreich eine herausragende Stellung haben und über die anderen Nationen herrschen.»

Bis heute hat kein Ersatztheologe zweifelsfrei beweisen können, dass wir die alttestamentlichen Verheissungen für das Volk Israel nicht wörtlich nehmen dürfen. Und das Neue Testament lehrt an keiner Stelle, dass die Gemeinde Jesu Israel abgelöst hätte oder dass die Juden ihre Verheissungen verloren hätten (vgl. Apg 1,6-7; Röm 9,4; 11,29).

Darum glauben wir, dass auch die moderateste Form von Ersatztheologie die Juden beraubt. Sie ist schlicht und ergreifend christlich verbrämter Diebstahl von alttestamentlichen Versprechungen an das jüdische Volk.

Von René Malgo