25.07.2011

Antisemitismus: Die Protokolle der Weisen von Zion

Es ist die «erfolgreichste Verleumdungskampagne aller Zeiten». Bis heute beeinflusst das antisemitische Pamphlet «Die Protokolle der Weisen von Zion» das Gedankengut der Menschen.
Verleumdung kann fatale Auswirkungen haben. Dazu schrieb Birgit Winterhoff im Lesebuch zur Jahreslosung 2011, Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem:
«In einer ländlichen Gemeinde hatte eine böse Verleumdungsgeschichte die Runde gemacht und grosses Unheil angerichtet. Der Urheber des Gerüchts, ein Landwirt, bekam schliesslich Gewissensbisse und ging zum Pfarrer, um sich die Sache von der Seele zu reden.
Dieser macht ihm einen seltsamen Vorschlag: ‹Gehen Sie nach Hause und schlachten Sie ein schwarzes Huhn. Rupfen Sie ihm alle Federn aus, auch die kleinsten, und verlieren Sie keine davon. Dann legen Sie die Federn in einen Korb und bringen ihn zu mir.›
Der Mann dachte, dass es sich um einen alten Brauch handle, und tat, was er tun sollte. Am nächsten Tag kam er wieder zum Pfarrer. Sein Korb war voller schwarzer Federn.
‹So›, sagte der Pfarrer, ‹jetzt gehen Sie langsam durch das Dorf und streuen alle paar Meter einige Federn aus. Dann steigen Sie auf den Kirchturm und schütteln den Rest auf das Dorf hinunter. Dann kommen Sie wieder her zu mir!›
Nach einer Stunde erschien der Mann wieder mit dem leeren Korb beim Pfarrer.
‹Schön›, meinte der freundlich. ‹Und jetzt gehen Sie durch das Dorf und sammeln alle ausgestreuten Federn wieder in den Korb. Aber sehen Sie zu, dass keine fehlt!›
Der Mann starrte den Pfarrer erschrocken an und sagte: ‹Aber das ist unmöglich! Der Wind hat die Federn in alle Richtungen verstreut!›
‹Sehen Sie, so ist es auch mit Ihren bösen Worten gegangen. Wer kann sie wieder einsammeln und zurücknehmen und ihre Wirkung ungeschehen machen? Denken Sie an die kleinen schwarzen Federn, wenn Sie das nächste Mal wieder in Versuchung geraten, Wörter auszustreuen und über andere zu reden!›»
Im Jahre 1864 erschien in Genf die satirische Schrift Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu (Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu). Verfasser war der Franzose Maurice Joly, der in dieser Schrift anonym den französischen Kaiser Napoléon III. attackierte. An Juden dachte Joly dabei nicht. Trotzdem wurde unter anderem ausgerechnet dieser Text die Vorlage eines antisemitischen Pamphlets, von dem P.M. Welt des Wissens schreibt, dass es «konkurrenzlos als erfolgreichste Verleumdungskampagne aller Zeiten in die Weltgeschichte» eingeht. Die Rede ist von den Protokollen der Weisen von Zion. 1903 erschienen diese sogenannten Protokolle zum ersten Mal in einer russischen Zeitung – «allerdings ohne Wirkung, weil sie als eindeutige Fälschung erkannt wurden». Zwei Jahre später verbreitete sie jedoch der russische Mystiker Sergej Nilus als Anhang in einem Weltuntergangsroman. «Bald zählte auch Zar Nikolaus II. zu den begeisterten Lesern.»
Die Protokolle der Weisen von Zion wollen «belegen», dass die verschwörerischen Juden die Weltherrschaft anstreben und überall ihre Finger drin haben. Auf etwa 80 Seiten werden in 24 Kapiteln angebliche Sitzungen und fiktive Reden eines jüdischen Führers vor der «Versammlung der Weisen von Zion» beschrieben. So heisst es an einer Stelle zum Beispiel: «Durch Not, Neid und Hass werden wir die Massen lenken und uns ihrer Hände bedienen, um alles zu zermalmen, was sich unseren Plänen entgegenstellt.»
Unter Historikern gehen die Meinungen auseinander, wer genau Urheber der Protokolle war. Viele vermuten, dass sie «ein Erzeugnis der russischen Geheimpolizei Ochrana aus der Zeit um 1895» sind. P.M. Welt des Wissens schreibt: «Nicht ganz zufällig tauchten die ‹Protokolle› zu einer Zeit auf, als in Russland die Staatspleite drohte. Die Juden sollten als Sündenbock für die Inkompetenz der Regierung dienen … Fakt ist: Das Gerede von der jüdischen Weltverschwörung ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts.»
1920 wurden die Protokolle erstmals ins Deutsche übersetzt. «Das Buch erreichte Westeuropa im Gepäck russischer Adliger.» Bis heute werden die Protokolle verbreitet, auch wenn dies zum Beispiel in Deutschland mittlerweile als Volksverhetzung strafrechtlich verfolgt wird. Längst sind sie zweifelsfrei als Fälschung entlarvt, doch noch immer berufen sich Menschen auf diese vermeintlichen Protokolle – oder vertreten antisemitisches Gedankengut, das eindeutig von diesen Protokollen stammt.
Die Islamwissenschaftlerin Carmen Matussek sagte im Interview mit factum auf die Frage, welche Rolle die Protokolle in der Geschichte des 20. Jahrhunderts (in islamisch geprägten Gesellschaften) gespielt haben: «72 Seiten Ergebnisse in zwei Sätzen zusammengefasst: Die antisemitische Propaganda in grossen Teilen der arabischen Welt heute – nennenswerte Ausnahmen sind mir nicht bekannt – ist in ihrem Ausmass nur vergleichbar mit derjenigen im Deutschen Reich der frühen Dreissigerjahre. Der Judenhass unter Arabern ist nicht primär als Folge der israelischen Militär- und Siedlungspolitik zu betrachten, sondern er ist einer der Hauptgründe für die Brutalität und Aussichtslosigkeit des Konflikts, und wird von regierungsnahen und -fernen Propagandisten systematisch geschürt.» Zwar kursieren diese Protokolle im arabischen Raum mehr in gehobenen sozialen Schichten, erklärte Matussek, «gleichzeitig zweifelt aber kaum jemand an der Existenz einer jüdischen Weltverschwörung». Auf die Frage, ob die Protokolle auch eine konkrete Rolle im Selbstverständnis politischer Organisationen spiele, antwortete sie: «Ja, natürlich. Zum einen wäre da natürlich die Hamas, die sich in ihrer Gründungscharta ausdrücklich auf die Protokolle beruft. Zum anderen habe ich aber auch Kapitel geschrieben über ägyptische Präsidenten wie Jamal Abd al-Nasir und Muhammad Husni Mubarak, über religiöse, ‹gemässigte› Persönlichkeiten wie den kürzlich verstorbenen Gross-Scheich der Azhar-Universität, über den malaysischen Ministerpräsidenten Mahatir bin Muhammad und über verschiedene namhafte Universitätsprofessoren. Deren Aussagen sind kaum weniger deutlich antisemitisch und vielleicht sogar noch erschreckender, weil wir es hier eben nicht mit Terrororganisationen, sondern mit anerkannten, teilweise säkularen Autoritäten zu tun haben.»
Auch wenn kaum eine Verleumdungsschrift so offensichtlich als Fälschung zu erkennen ist wie die Protokolle der Weisen von Zion, sind die dadurch kolportierten Vorurteile und Verschwörungstheorien nicht totzukriegen.
«Die ‹Protokolle› haben sich als wahres Wunderwerk entpuppt: Man kann sie immer und immer wieder als Fälschung entlarven – trotzdem finden sie stets ihr Publikum. Vor allem unter Alt- und Neonazis und – seit es den Staat Israel gibt – auch in der muslimischen Welt, ebenso in Japan und China. Das Buch ist und bleibt eine Lüge – aber eine, die nicht kurze, sondern äusserst lange Beine hat.» Die Lüge hatte schon immer leidenschaftlichere Anhänger als die Wahrheit.
Die Bibel sagt: «Du sollst kein falsches Gerücht verbreiten!» (2.Mo 23,1). «So ist auch die Zunge ein kleines Glied und rühmt sich doch grosser Dinge. Siehe, ein kleines Feuer – welch grossen Wald zündet es an! Und die Zunge ist ein Feuer, eine Welt der Ungerechtigkeit. So nimmt die Zunge ihren Platz ein unter unseren Gliedern; sie befleckt den ganzen Leib und steckt den Umkreis des Lebens in Brand und wird selbst von der Hölle in Brand gesteckt. Denn jede Art der wilden Tiere und Vögel, der Reptilien und Meerestiere wird bezwungen und ist bezwungen worden von der menschlichen Natur; die Zunge aber kann kein Mensch bezwingen, das unbändige Übel voll tödlichen Giftes!» (Jak 3,5-8).
Von Norbert Lieth