16.03.2011

Der Richter

Ein angesehener Richter, der bekannt für seine gerechten Urteile war, wurde aufgrund dessen geachtet und geliebt, zugleich aber auch gefürchtet. Eines Tages gab es in der Stadt einen Tumult. Die Mutter des Richters hatte in einem Einkaufsladen einige Dinge entwendet und wurde dabei vom Sheriff höchstpersönlich ertappt. Die Sensationsnachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer: «Habt ihr schon gehört, die Mutter unseres Richters hat geklaut.»
Die Nachricht hatte sich noch nicht ganz verbreitet – weil die grösste Tratschtante der Stadt gerade in Ferien weilte – da wanderten auch schon die ersten Geldnoten über den Tisch: «Ich wette 100 Pfund, dass unser Richter seine Mutter freispricht.» «Auf gar keinen Fall, ich setze dagegen. Ihr werdet sehen, der bringt sogar seine eigene Mutter hinter Gitter.» Alle Leute in der Stadt tuschelten und diskutierten. Die einen meinten: «Er wird doch seine eigene Mutter nicht verurteilen. Schliesslich hat sie ihn grossgezogen und wir wissen alle, dass er sehr an seiner Mutter hängt und die beiden sich innig lieben.» «Ja», entgegneten die anderen, «aber er hat bislang noch nie ein ungerechtes Urteil gefällt. Und wenn seine Mutter geklaut hat, dann kann er sie nicht einfach freisprechen.» «Genau! Schliesslich hat er auch mich vor geraumer Zeit bestraft, nur weil ich ein paar Dosen Fisch habe mitgehen lassen. Dabei waren die Dinger bereits tot und haben eh nicht geschmeckt.» Es wurde fleissig gewettet und heftig diskutiert. Dann endlich war es so weit, der Gerichtstermin stand an. Der Saal war viel zu klein für all die Leute, die sich dieses Ereignis nicht entgehen lassen wollten. Die Verhandlung ging schnell vonstatten; zu eindeutig war der Sachverhalt. Die Frau war schuldig und versuchte erst gar nicht, sich zu rechtfertigen. Stumm wie ein Fisch starrte sie an die Wand. Dann kam der grosse Augenblick. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so gespannt erwarteten die Anwesenden das Urteil. Es herrschte eine bedrückende Stille, als der Richter sich von seinem Sessel erhob um das Urteil zu verkünden: «Schuldig … in allen Punkten – 20 Stockhiebe!» Schlagartig verwandelte sich die Stille in ein ohrenbetäubendes Tohuwabohu. Die einen schlugen entsetzt ihre Hände vors Gesicht: «Wie kann der Mann nur so unbarmherzig sein; ein Tyrann, der seine eigene Mutter opfert, nur damit er in seinem Amt bleiben kann; Buh!» Andere hingegen fühlten sich bestätigt: «Dieser Richter spricht nicht nur Recht, sondern sogar gerecht; und es ist völlig richtig, dass er auch bei seiner Mutter keinen Unterschied macht. Alle Achtung, Respekt!» Die Diskussion war noch voll im Gange und die Situation drohte zu eskalieren, als das Unfassbare und völlig Überraschende geschah. Der Richter entfernte sich von seinem Podest und ging die Stufen hinab, dorthin, wo seine Mutter regungslos verharrte. Als der Richter ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, kamen beiden die Tränen und der Sohn schloss seine Mutter liebevoll in die Arme. Dann wandte er sich dem verstörten Publikum zu und sprach mit zittriger und zugleich kräftiger Stimme die Worte, die man bis heute nicht vergessen hat: «Meine liebe Mutter, diese Strafe nehme ich stellvertretend auf mich!»
Haben wir verstanden, worum es geht? Diese Geschichte verdeutlicht Gottes Handeln mit uns Menschen. Wir sind schuldig vor Gott: «Denn alle haben gesündigt und erlangen nicht die Herrlichkeit Gottes …» (Röm 3,23). Er kann uns nicht einfach freisprechen, so, als wäre nichts geschehen. Dies wäre ungerecht und entspricht nicht Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit. Aber aus Liebe bietet uns Gott einen Ausweg an, um dieser ganz und gar gerechten Strafe zu entgehen. Dieser Weg führt ans Kreuz nach Golgatha zu Gottes geliebtem Sohn, Jesus Christus. Er nahm die gerechte Strafe stellvertretend auf sich, so wie es im Römerbrief weitergeht mit den Worten: «… und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist» (Röm 3,24).
Von Thomas Lieth